
Im Bereich Lesen finden Sie einen kommentierten Querschnitt von Büchern und Online-Ressourcen zur Geschichte des Kommunismus.
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Über die "Deutsche Tscheka"
Am 10. Februar 1925 begann vor dem Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik in Leipzig ein Prozess, der die politische Landschaft der Weimarer Republik nachhaltig erschüttern sollte. Angeklagt waren Mitglieder der sogenannten T-Gruppe, einer kommunistischen Geheimorganisation, die von Presse und Behörden als „Deutsche Tscheka“ bezeichnet wurde. Dieser erste Verhandlungstag zog sofort die Aufmerksamkeit von Presse und Öffentlichkeit auf sich, da er tiefe Einblicke in die politischen Spannungen und Konflikte der Zeit versprach.
Jacques Mayer, der Autor des am Ende dieser Einführung verlinkten Artikels, erweitert den bisherigen Kenntnisstand durch eine detaillierte Untersuchung der Ermittlungsakten und der zeitgenössischen Berichterstattung. Seine Analyse zeigt, wie die Ereignisse nicht nur die politischen Verhältnisse der Weimarer Republik prägten, sondern auch langfristig die Narrative über die Rolle kommunistischer Bewegungen in Deutschland beeinflussten. Mayer gelingt es, die komplexen Wechselwirkungen zwischen staatlicher Repression, politischer Instrumentalisierung und öffentlicher Wahrnehmung klar herauszuarbeiten und neue Perspektiven auf diesen historisch bedeutsamen Prozess zu eröffnen. Aus heutiger Perspektive beleuchtet die Geschichte der „Deutschen Tscheka“ die Gefahren von Propaganda und politischen Kampagnen, die dazu dienen, Gegner zu diskreditieren und Ängste zu schüren. |
Die Geschichte begann jedoch früher: Im Januar 1924 wurde Johann Rausch, ein KPD-Mitglied und Polizeiinformant, niedergeschossen. Obwohl er den Angriff zunächst überlebte, erlag er wenige Wochen später seinen Verletzungen. Die Ermittlungen zu diesem Mordversuch führten die Polizei auf die Spur mehrerer Verdächtiger, die Ende Februar 1924 durch die Polizei in Stuttgart verhaftet wurden, darunter Felix Neumann, ein früherer Funktionär der KPD-Zentrale. Die Verhaftungen wurden zunächst als Erfolg im Kampf gegen politische Gewalt dargestellt, ohne dass das volle Ausmaß der Vorwürfe sofort ersichtlich war.
Nach den Verhaftungen begann eine intensive Ermittlungsphase. Bei Durchsuchungen fanden die Behörden zahlreiche Dokumente und Notizen, die auf den ersten Blick den Verdacht einer organisierten Struktur bestärkten. Die Auswertung dieser Unterlagen offenbarte Pläne für weitere Anschläge und eine straffe Organisation, was die Ermittler als Teil einer umfassenden Gewaltstrategie deuteten. Felix Neumann spielte hierbei eine zentrale Rolle: Da seine Partei ihn als Polizeispitzel und Provokateur bezeichnete und der Familie die Unterstützung verweigerte, entschloss er sich, vier Monate nach seiner Verhaftung und einem Selbstmordversuch, zur Kooperation. Während die Aktivitäten der T-Gruppe auch aus den Aussagen der übrigen Gruppenmitglieder erschlossen werden konnten, sagte Neumann über die Verbindung der Gruppe zur KPD-Führung und dem Militärapparat aus. In den sechs Wochen seiner Funktion als Sekretär des Revolutionskomitees und provisorischer Kassenwart hatte er außerdem tiefe Einblicke in die Organisation der Umsturzvorbereitungen im Herbst 1923 (die sogenannte „Deutsche Oktoberrevolution“) und deren Finanzierung über die sowjetische Botschaft in Berlin bekommen, deren Offenbarung für die KPD-Führung wohl verhängnisvoller waren als seine Berichte über die von ihm geleitete T-Gruppe.
Die Ermittlungen nahmen schnell an Umfang zu. Die Festgenommenen wurden mit Vorwürfen konfrontiert, die von Mord und versuchten Attentaten bis zur Bildung einer terroristischen Vereinigung reichten. Die Gruppe wurde zunehmend als „Deutsche Tscheka“ bezeichnet, ein Begriff, der eine Verbindung zur sowjetischen Geheimpolizei herstellen sollte. Diese Darstellung fand nicht nur in den Ermittlungsakten, sondern auch in sensationellen Presseberichten Widerhall. Besonders das in Abstimmung mit der KPD-Führung geplante, aber dann abgesagte, Attentat auf Hans von Seeckt, den Chef der Heeresleitung, wurde in den Fokus gerückt.
Der Prozessbeginn am 10. Februar 1925 brachte diese Erkenntnisse vor Gericht. Die Anklage stellte die T-Gruppe als eine gut organisierte, gefährliche Vereinigung dar, die gezielte politische Morde und Terrorakte plante. Im Mittelpunkt stand die Verwicklung der Gruppe in den Mord an Johann Rausch, während andere Anschläge, wie der auf Hans von Seeckt, lediglich als Planungsabsicht dargestellt wurden. Felix Neumann, der als eine Art Kronzeuge auftrat, präsentierte ein Bild, das die Gruppe als erhebliches Sicherheitsrisiko erscheinen ließ. Gab es vor der Verhandlung in der Presse noch erhebliche Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Aussagen Neumanns, hatte sich das Meinungsbild zum Prozeßende gewandelt – mit Ausnahme der kommunistischen Blätter hielten die Zeitungen Neumann jetzt für glaubwürdig.
Eine Besonderheit war, daß sich zahlreiche Vorwürfe der Reichsanwaltschaft gegen die Führung der KPD richteten, obwohl niemand aus diesem Kreis angeklagt war. Es wurde offensichtlich, daß der Tscheka-Prozeß nur der Auftakt war zu einer großen Abrechnung mit der KPD-Zentrale.
Die Ermittlungen und der Prozess hatten weitreichende Konsequenzen. Sie dienten den Behörden als Vorwand, die KPD massiv zu überwachen und zu kriminalisieren. Gleichzeitig zeigte die Affäre die Zersplitterung und Radikalisierung der politischen Landschaft der Weimarer Republik. Felix Neumann selbst wurde zum Tode verurteilt, später jedoch begnadigt und amnestiert. Seine Zusammenarbeit mit den Behörden hinterließ ein ambivalentes Vermächtnis: Sie war sowohl ein Schlüssel zur Aufarbeitung der Geschehnisse als auch ein Mittel zur politischen Instrumentalisierung.
Besonders bemerkenswert war die Rolle von Voldemars Roze als Vorgesetzter der T-Gruppe und militärischer Leiter im KPD-Apparat, der unter seinem Decknamen „Helmuth“ operierte. Seine Verhaftung zog internationale Aufmerksamkeit auf sich, da die Sowjetunion vehement seine Freilassung forderte. Durch diplomatische Kanäle und gezielte Verhaftungen deutscher Staatsbürger in der Sowjetunion übte Moskau erheblichen Druck auf den deutschen Staat aus und erreichte schließlich seine vorzeitige Entlassung und Abschiebung in die Sowjetunion. Diese Intervention diente als Signal für die internationale kommunistische Bewegung und zeigte die Einflussnahme der UdSSR auf die Innenpolitik anderer Staaten.
Eine weitere Besonderheit im Prozeß waren die teils heftigen juristischen Streitigkeiten, hervorgerufen durch die Konfliktverteidigung der kommunistischen Anwälte und die allgemein beklagte cholerische und inkompetente Verfahrensleitung durch den Vorsitzenden Richter Alexander Niedner. Darüber berichtete auch der nichtkommunistische Anwalt Arthur Brandt in seiner Broschüre „Der Tscheka-Prozeß – Die Denkschrift der Verteidigung“ von 1925, übrigens von der KPD in Auftrag gegeben und honoriert. 1979 wurde das neu herausgegeben und erweckte vielleicht bei manchem die Illusion, hier etwas über die Hintergründe der Angelegenheit zu erfahren, obwohl es sich auf die juristischen Fragen konzentrierte.
Letztlich wurde die „Deutsche Tscheka“ mehr zum Mythos als zur realen Gefahr. Viele der vorgebrachten Anschuldigungen stellten sich als Übertreibungen heraus, und die operativen Fähigkeiten der Gruppe waren stark begrenzt. Dennoch bleibt der Prozess ein mahnendes Beispiel für die Instrumentalisierung von Justiz und Öffentlichkeit in einer Zeit politischer Unsicherheit.
Der Prozess wurde nicht nur von den staatlichen Behörden als Werkzeug genutzt, um die KPD zu schwächen und den Verdacht einer umfassenden kommunistischen Verschwörung zu schüren. Rechte Parteien griffen die Ereignisse auf, um in der Öffentlichkeit Ängste vor einem „roten Umsturz“ zu schüren und ihre politischen Forderungen zu untermauern. Zugleich versuchte die KPD, die Verhaftungen und den Prozess als Beispiele für die staatliche Repression gegen Arbeiter und Kommunisten zu stilisieren, was in ihren Publikationen und internationalen Protestkampagnen deutlich wurde.
In den folgenden Jahrzehnten wurde der Prozess in verschiedenen politischen Kontexten immer wieder instrumentalisiert. Während die NS-Propaganda ihn später nutzte, um die vermeintliche Gefahr kommunistischer Verschwörungen zu untermauern, griffen westdeutsche Historiker nach 1945 die Ereignisse auf, um die Radikalisierung der Weimarer Republik zu analysieren.
Über den Autor
Jacques Mayer, Dr. rer. nat., geb. 1951 in Berlin. 1970–1975 Mathematikstudium in Jerewan, 1979 Promotion in Mathematik in Moskau. Danach bis 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter ab der HU Berlin. Seit 1997 Forschungen zur Geschichte von KPD und Komintern.