Alexandra Litwina/Anna Desnitskaya: In einem alten Haus in Moskau

100 Jahre russische (Familien-)Geschichte - erzählt aus Kinderperspektive

Tamina Kutscher

DAs Foto zeigt den Sohn der Autorin, der mit einem Auge über das ausgeschlagene Buch hinweg blickt

Es ist das Jahr 1902, die sechsjährige Irina Muromzewa zieht mit ihren Eltern in eine große Wohnung in Moskau, in der es noch nach Farbe riecht. So beginnt das großformatige Bilderbuch „In einem alten Haus in Moskau“, in der die Wohnung die Bühne für den „Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte“ ist, auf den die Historikerin Alexandra Litwina und die Illustratorin Anna (Anja) Desnitskaya ihre Leser auf den folgenden knapp 50 wunderschön illustrierten Seiten mitnehmen.

In dieser Wohnung spielt sich das Leben durch alle Zeiten ab, ein Ort als Spiegel der historischen, sozialen und individuellen Umbrüche in der Geschichte Russlands. Das Buch ist ein detailreicher Bilderbogen, der eindrücklich und sinnlich die kleine und persönliche Geschichte in der großen erzählt: aus unterschiedlichen Perspektiven von Erwachsenen und hauptsächlich von Kindern der Familie Muromzew, anhand von Mobiliar, Fotos, Postkarten, Urkunden, Metro-Münzen, Spielzeugen, Schallplatten … vom Ersten Weltkrieg, von der Februar- und Oktoberrevolution und vom Bürgerkrieg, dem Großen Terror und Zweiten Weltkrieg, über Tauwetter, Perestroika und Augustputsch bis ins Jahr 2002 hinein.

Mit den Zeiten ändern sich die Bewohner, verändert sich die Wohnung selbst. Die einzelnen Gegenstände sprechen für sich: Ein Familienfoto etwa, auf dem manche der Gesichter fehlen. Es ist das Terrorjahr 1937, der Vater der kleinen Iskra wurde abgeholt, die Mutter hat die Gesichter der Freunde und Verwandten, die verhaftet wurden, vorsorglich aus den Bildern ausgeschnitten. Eine Woche später, so erfährt man von Iskra, wird auch die Mutter abgeführt. Später ist da etwa das Ehepaar, das im Minsker Ghetto ums Leben kommt. Kein Lesebuch also, das man Kindern einfach in die Hand drückt, sondern ein Geschichtsbuch für die ganze Familie, das mitunter schon einiges an Wissen voraussetzt und das gemeinsam gelesen, geguckt und besprochen werden sollte.

Im Jahr 2002 schließlich ist aus der Wohnung ein Café geworden, in dem die Großfamilie Muromzew zu einer Geburtstagsfeier zusammenkommt. Es hat sie in alle Welt verstreut, aus Frankreich reist Jean-Paul an – der Enkel von Irina Muromzewa, die mit ihrem Mann, einem Weißgardisten, nach Frankreich geflohen war.

Doch das ist nicht das „Ende der Geschichte“: Das Buch ist zunächst 2016 in Russland erschienen, und zwar in Kooperation mit der Menschenrechtsorganisation Memorial. Die hat sich seit der Perestroika wie keine andere für die Aufarbeitung der Geschichte und der Traumata in der russischen Gesellschaft eingesetzt. Memorial International ist seit 2021 in Russland verboten, die Illustratorin Anna Desnitskaya ist 2022, nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine, mit ihrer Familie ins Exil gegangen. Die Geschichten dieses Buches können im Russland von 2023 weniger erzählt werden als je zuvor – und klingen umso lauter nach.

Alexandra Litwina/Anna Desnitskaya: In einem alten Haus in Moskau. Aus dem Russischen von Lorenz Hoffmann und Thomas Weiler. Hildesheim, Gerstenberg Verlag 2017. Ein #Lesetipp von Tamina Kutscher, Mitglied im Fachbeirat Gesellschaftliche Aufarbeitung/Opfer und Gedenken. Hinter dem Buch blinzelt ihr Sohn Valentin hervor.

Karte