Rezension

Alfons Söllner, Ralf Walkenhaus und Karin Wieland (Hrsg.): Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts

Rezensent: Klaus Schönhoven

Buchcover von Alfons Söllner, Ralf Walkenhaus, Karin Wieland (Hrsg.): Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin: Akademie Verlag 1997.

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaftssysteme in Mittel- und Osteuropa wurde der Buchmarkt von einer Fülle von Publikationen überschwemmt, die das „kurze“ 20. Jahrhundert zwischen dem Beginn des Ersten Weltkrieges und der Zäsur von 1989/90 als „Zeitalter der Extreme“ vermessen haben. In diesen Rückblicken erlebte die Totalitarismustheorie eine ideengeschichtliche Renaissance, die ihr „eine eigentümliche Stellung zwischen Politik und Wissenschaft, zwischen Ideologie und Wahrheit“ verschaffte (Alfons Söllner). Das dokumentiert diese facettenreiche Bestandsaufnahme aus einer historiographischen Perspektive. Ihre Autoren analysieren in 16 Einzelbeiträgen den immer wieder unternommenen Versuch, die Systemeigenschaften von Faschismus und Kommunismus als komparative Epochenkategorie unter einem gemeinsamen Dach zu verorten.
Der Blick richtet sich auf die Entstehung und den Erfahrungshintergrund der Totalitarismustheorie, auf die Motive, den wissenschaftlichen Kontext und das zeitgeschichtliche Umfeld der Befunde von Carl Schmitt oder Ernst Rudolf Huber, von Sigmund Neumann, Hannah Arendt, Carl Joachim Friedrich und Raymond Aron. Ausführlich analysiert wird auch Ruth Fischers viel beachtetes Buch „Stalin und der deutsche Kommunismus“. Denn diese autobiographisch motivierte Abrechnung mit dem Kommunismus machte sie zu einer Kronzeugin der ideologischen Leidenschaften und Irrtümer der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und brachte ihr zugleich die erbitterte Feindschaft ehemaliger kommunistischer Weggenossen ein.
Dem in den 1980er-Jahren entfachten Historikerstreit über die Vergleichbarkeit von Nationalsozialismus und Kommunismus, der in der von Stephane Courtois formulierten These von der engen Nachbarschaft des kommunistischen „Klassen-Genozids“ und des nationalsozialistischen „Rassen-Genozid“ gipfelte, stellt Pierre Bouretz in seinem Beitrag die Forderung entgegen, man solle sich bei der Entschlüsselung des totalitären Rätsels nicht nur auf philosophische Konzepte und politikwissenschaftliche Theorien stützen, sondern vor allem auch auf die Erinnerungen und Erfahrungen von Augenzeugen zurückgreifen. Seinem Plädoyer für eine vergleichende Auswertung der Werke von Primo Levi, Elie Wiesel, Arthur Koestler, Margarete Buber-Neumann, Wassilij Grossmann oder Jorge Semprun kann man nur zustimmen. Dies gilt auch für die am Schluss des Bandes zitierte Warnung von Niklas Luhmann, die Geschichte als etwas zu versiegeln, „was einer nun vergangenen Epoche angehört“. Mit Blick auf die gegenwärtige Renaissance des Rechtsradikalismus ist diese Warnung nur zu berechtigt.

Informationen über den Rezensenten:

Prof. Dr. Klaus Schönhoven, von 1984 bis 2007 Prof. für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim; Zahlreiche Publikationen zur deutschen Parteien- und Sozialgeschichte sowie zur Vergangenheits- und Erinnerungspolitik;  u.a.: Arbeiterbewegung und soziale Demokratie in Deutschland, Bonn 2002; Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition 1966-1969, Bonn 2004; Hrsg. von: Willy Brandt, Im Zweifel für die Freiheit. Reden zur sozialdemokratischen und deutschen Geschichte, Bonn 2012.

Bibliografische Angabe

Alfons Söllner, Ralf Walkenhaus, Karin Wieland (Hrsg.): Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin: Akademie Verlag 1997.