Claus Dieter Kernig (Hrsg.): Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft
Eine Enzyklopädie von sechs dickleibigen Bänden zu rezensieren, fällt vermutlich etwas aus dem Rahmen. Mir scheint dieses mittlerweile weitestgehend vergessene Großunternehmen aber erinnerungswürdig, weil es in doppelter Hinsicht „historisch“ ist. Zum einen: Niemand betreibt nach dem Ende des Kommunismus in Europa noch Systemvergleiche. Die Artikel sind inhaltlich zudem in vielerlei Hinsicht überholt und besitzen insofern selbst einen historischen Quellenwert, wie es für viele wissenschaftliche Bücher aus den 1960er-Jahren der Fall ist. Aber zum anderen: die Enzyklopädie setzt sich mit Problemen des Kommunismus in einer Breite und auf einem Niveau auseinander, von dem man auch heutzutage lernen kann. Derartig kompakte Synthesen zu Schlüsselbegriffen und –themen aus der Geschichtswissenschaft, den Sozialwissenschaften und der Philosophie in komparativer Absicht sind anderweitig kaum aufzutreiben und insofern für Interessenten der Zeitgeschichte und politischen Bildung immer noch sehr brauchbar. 1966 erschien der erste Band in Deutsch, 1972 der Letzte. Neben dem Herausgeber C. D. Kernig, einem 1927 in Berlin geborenen Politologen, waren für die unterschiedlichen hier behandelten Wissenschaftsdisziplinen durchweg renommierte Wissenschaftler als Berater, Redakteure und Verfasser der Artikel tätig. „Ein derartig ambitioniertes und umfassendes Unternehmen ist einmalig in der Welt“, schrieb damals die ZEIT und hatte damit vermutlich Recht. Der Marxismus wurde hier, folgt man der Bemerkung des Herausgebers in der Einführung, verstanden „als einzige interne Alternative der europäischen Zivilisation, die in Bezug auf die Folgen der industriellen Revolution von der Größenordnung einer wirklich andersartigen Lebensform ist, nämlich der Lebensform des Sozialismus.“ Diese Form der Reflexion lässt zumindest erahnen, warum der Marxismus/Kommunismus weltweit so eine enorme Ausstrahlungskraft entwickelt hat. Terror und Verbrechen werden nicht verschwiegen, stehen aber nicht im Mittelpunkt des Werkes. Die stalinistischen Überformungen werden ebenso wie die kritische Rückbesinnung auf Marx und Engels umfassend reflektiert. Artikel aus der Abteilung „Geschichte“ zum Bauernkrieg (T. Nipperdey), zur Arbeiterbewegung (H. Mommsen) oder zur Geschichtswissenschaft (G. Iggers/W. Schulz) sind noch heute eine ergiebige Lektüre und zeigen, wie man sich nach dem Abflauen des Kalten Krieges ernsthaft und produktiv mit dem „realsozialistischen“ Gegner auseinandersetzte.
Informationen über den Rezensenten:
Christoph Kleßmann, em. Prof. für Zeitgeschichte, 1976 bis 1992 Universität Bielefeld, danach Universität Potsdam, bis 2004 Direktor des ZZF. Forschungsschwerpunkte: deutsche und polnische Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Bibliografische Angabe
Claus Dieter Kernig (Hrsg.): Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, 6 Bde., Freiburg/Basel/Wien: Herder 1966-1972.