Rezension

Günther Hillmann: Selbstkritik des Kommunismus. Texte der Opposition

Rezensent: Bernd Rother

Vermutlich in einem Antiquariat fand ich das Buch; es muss 1969 oder 1970 gewesen sein. Über Arbeiterbewegung, Marxismus, Sozialdemokratie und Kommunismus hatte ich bereits einiges gelesen, auch James Jolls Studie über Anarchisten. Aber dieses Buch eröffnete mir eine neue Welt: Kommunisten, die eine Alternative zum Moskauer Dogmatismus forderten und formulierten. Von der KAPD hatte ich vorher nichts gehört, auch nicht von Sex-Pol. Die Kronstadter Kommune kannte ich vom Hörensagen, aber hier fand ich ihren Aufruf. Anders als die Moskautreuen immer wieder behauptet hatten, forderte die Kommune nicht den Ausschluss der Bolschewiki aus den Räten. Neu war mir auch, dass eine Zeitschrift wie die "Constanze" 1956 eine Plattform für oppositionelle DDR-Kommunisten gewesen war; ich kannte sie nur als Frauen-Zeitschrift. Mehr als die programmatischen Texte interessierten mich Günther Hillmanns "Vorbemerkungen" zu jedem Text. Hinter einander gelesen waren und sind sie eine Geschichte der Opposition gegen die offizielle Linie der kommunistischen Weltbewegung. Eine sechsseitige Chronologie zur kommunistischen Opposition und Literaturhinweise am Ende des Buches gaben weiteren Stoff zum Nachdenken und Argumentieren. Für die Diskussionen mit Maoisten oder DKPisten am Lüneburger Gymnasium oder später an der TU Braunschweig war mir die Anthologie eine unersetzliche Hilfe. Die Dokumente zeigten, dass die Mär von der wissenschaftlichen Begründung für eine immer "korrekte" Parteilinie Unsinn war. So viele Alternativen hatte es gegeben. Und immer wieder hatten die Selbstkritiker mehr Demokratie gefordert, wenn auch häufig genug nur für diejenigen, die nicht grundsätzlich den Kommunismus ablehnten. Wie schädlich die Unterdrückung jeglicher freier Meinungsäußerung gewirkt hatte und wie wenig sie aber kommunistischen Ideen von vornherein inhärent gewesen war, all dies bewies ein Text nach dem anderen. Über eine erste Auflage kam das Buch nicht hinaus. Erschienen im Mai 1967, kam es etwas zu früh, um von der Studentenbewegung breit rezipiert zu werden. Oder war es zu kritisch? Wenige Jahre später jedenfalls waren selbst Texte von Otto Rühle dem Rowohlt-Verlag kommerziell aussichtsreich. Als das Buch erschien, hatte Günther Hillmann bereits seine Gefängnisstrafe abgesessen, zu der er 1960 in Dortmund wegen "Staatsgefährdung" verurteilt worden war. KPD-Funktionär war er gewesen, hatte aber zwischenzeitlich mit ihr gebrochen. Für eine Begnadigung reichte dies nicht. Auch das gehört zur Geschichte des Buches.

 

Informationen über den Rezensenten:

Bernd Rother, Dr. phil., Historiker bei der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Stellvertretender Vorsitzender der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD. Veröffentlichungen zur Regionalgeschichte Braunschweigs, zur Geschichte der deutschen und europäischen Arbeiterbewegung, zur Geschichte der SPD, zum Holocaust sowie zur Zeitgeschichte Spaniens und Portugals.

Bibliografische Angaben:

Günther Hillmann: Selbstkritik des Kommunismus. Texte der Opposition, Reinbek: Rowohlt 1967.