Isaac Deutscher: Trotzki
Die Trotzki-Biografie von Isaac Deutscher (1907–1967) war ein eminent politisches Werk, geprägt von den Auseinandersetzungen seiner Zeit. Nur wenige Geschichtswerke wurden häufiger zitiert und erschienen später so unzeitgemäß wie dieses. Nach dem Ende der Sowjetunion galt Trotzki vielen Linken nicht mehr als Alternative zu Stalin. Trotzkis Bild war nun jenem wieder ähnlich, das die westliche Öffentlichkeit hatte, bevor Deutschers Bücher erschienen: Der einstige zweite Mann hinter Lenin gilt vielen als ein Wegbereiter des Terrors, beinahe gleichzusetzen mit seinem siegreichen Rivalen.
Diesem Bild wollte Deutscher entgegentreten. Zugleich war seine Biografie die schärfste Kampfansage an die offizielle sowjetische Geschichtspolitik. Dass ein einzelner Forscher das Trotzki-Bild einer ganzen Generation mitprägen konnte, lässt allein schon Rückschlüsse auf die Qualität des Werkes zu. Viele Erkenntnisse Deutschers sind inzwischen ins kollektive Geschichtsbewusstsein eingegangen. Dazu gehören zwingende Einsichten in den widersprüchlichen Verlauf der Russischen Revolution. Deutscher erklärte seinen Zeitgenossen, warum die bolschewistische Herrschaft nach ihrem Sieg schon den Keim eines schweren Konfliktes in sich trug. Er führt die Fehlentscheidungen der dramatis personae einprägsam vor Augen, stellt jedoch klar: Nicht die politischen Unzulänglichkeiten oder charakterlichen Mängel führender Bolschewiki seien für den Niedergang der Utopie verantwortlich. Vielmehr habe der wirtschaftliche Zusammenbruch des Landes die Revolution möglich und schließlich unabwendbar gemacht, aber auch eine Spirale von Gewalt, Terror und Gegenterror im Bürgerkrieg hervorgerufen. In diesem Bürgerkrieg siegten die Bolschewiki und Trotzki.
Was Deutscher als Trotzkis „Niederlage im Sieg“ sichtbar machte, galt für die gesamte bolschewistische Linke: Ihre politische Basis schrumpfte in dem Maße, in dem die Arbeiterklasse aufgerieben wurde und auf ein Zehntel ihrer Vorkriegszahl zusammenschmolz. Als die Partei diktatorische Maßnahmen ergriff, um das Wirtschaftsleben in Gang zu setzen, musste sie auch die innerparteiliche Kritik zum Schweigen bringen. Deutscher sah mit Recht den Kronstädter Aufstand und das zeitgleiche Verbot der Fraktionsbildung innerhalb der Partei 1921 als Ausdruck des unauflösbaren Dilemmas.
Eine Rettung erhofften viele Bolschewiki von einer Revolution im Westen, vor allem in Deutschland. Sie würde den cordon sanitaire sprengen, den die bürgerliche Welt um Russland gelegt hatte. Niemand verkörperte diese Hoffnung stärker als Trotzki, der Künder der „permanenten Revolution“. Die Niederlage der Revolution im Westen trug zu Trotzkis Niederlage bei. Doch Trotzki, im Exil jeder Macht entkleidet, wuchs zum brillantesten Kritiker Stalins wie Hitlers heran.
Informationen über den Rezensenten:
Prof. Dr. Mario Keßler ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des Zionismus, des Antisemitismus sowie der Arbeiterbewegung mit dem Schwerpunkt Historische Kommunismusforschung. Zuletzt war er Gastprofessor an der Yeshiva University, New York und leitete das Projekt: "Beargwöhnt und benötigt: Westemigranten zwischen USA-Exil und DDR" (2013-2016).
Bibliografische Angabe
Isaac Deutscher: The Prophet. The Life of Leon Trotsky, London: Verso 2015 (zuerst als dreibändige Ausgabe 1954–1962 bei Oxford University Press erschienen), Aus dem Englischen übersetzt von Harry Maor, 3 Bde., 2. Aufl., Stuttgart: Kohlhammer 1972.