Rezension

Kathrin Schmidt: Kapoks Schwestern

Rezensent: Andreas Pehnke

Cover von Kathrin Schmidt: Kapoks Schwestern, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016.

“Kapoks Schwestern“ thematisiert die gebrochenen Biografien Ostdeutscher, die sich nach dem Fall der Mauer neu orientieren mussten. Es ensteht ein realistisches Panorama Deutschlands nach der Wiedervereinigung mit vielen historischen Bezügen. Und das geschieht durchweg feinnervig und sensibel. Im Mittelpunkt stehen Werner Kapok und die in der Nachbarschaft lebenden Schwestern Claudia und Barbara Schaechter. Während seines Marxismus-Leninismus-Studiums wurde Werner IM und auf die Familie Schaechter „angesetzt“. Freundin Barbara schrieb aus großem Jux „seine“ Berichte für den Führungsoffizier. Derartiges wird manchen „Enthüllungsjournalisten“ enttäuschen, der bislang jede Zeile in den Stasi-Akten als unumstößliche Wahrheit zu interpretieren suchte. In den achtziger Jahren verloren sich die Protagonisten aus den Augen. Erst gegen Ende ihres fünften Lebensjahrzehnts werden sie sich spannungsvoll wiederbegegnen. Werner durchlebte den tiefsten Fall: Noch im Herbst 1989 zum Professor für M-L berufen, fügte er sich nach wenigen Monaten ungewöhnlich reumütig in die Ausmusterung. Zwar hatte er sich in der Partei den Ruf eines kritischen Geistes erarbeiten können, aber im zu spät erlangten Bewusstsein, das Honecker-Regime bewusst gestützt zu haben, wollte er sich weder verteidigen noch reinwaschen. Weil ihm Scham marktief in den Knochen steckte, tauchte er in der mecklenburgischen Provinz unter. Dort verdingte er sich zunächst als ABM-Kraft im Heimatmuseum, sodann als Gärtner. Die Autorin spannt den biografischen Bogen auch über die Eltern- und Großelterngeneration ihrer Helden. Claudia und Barbaras Vater Joachim Schaechter, Kommunist und Jude, wuchs in Berlin-Neukölln auf, besuchte die dortige reformpädagogische Karl-Marx-Schule. Die Familie floh vor den rassistischen Anfeindungen nach Moskau und erlebte im Mutterland des Kommunismus, wie Stalin den Terror Hitlers eingebürgert zu haben schien. Sein Vater Victor musste im Zuge der „Säuberungsaktionen“ Stalins ins Gefängnis. Joachim ging in die deutschsprachige Emigrantenschule „Karl-Liebknecht“ bis immer mehr Lehrer und sogar Schüler wegen angeblicher Verschwörungen verhaftet wurden und diese reformpädagogische Hochburg 1938 geschlossen wurde. Er kehrte als Soldat der Roten Armee nach Berlin zurück. Die Autorin orientiert sich mit ihrem asynchronen Fabulieren sowie rigorosen Zeitsprüngen an Prinzipien des Nouveau Roman. Mit Konsequenz wird aus der Perspektive der agierenden Personen berichtet. Der Text überzeugt durch das Gespür für Details und amüsiert durch gekonnte Sprachspiele.

Informationen über den Rezensenten:

Andreas Pehnke, Prof. Dr., 1993 Berufung auf die Gründungsprofessur für Allgemeine Erziehungswissenschaft (Systematische & Historische & Vergleichende Pädagogik) an die Universität Greifswald. Veröffentlichungen u. a.: seit 2000 Biografiereihe über Schulreformer, die in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts wiederholt gemaßregelt worden waren, im Sax-Verlag (Beucha bei Leipzig); Widerständige sächsische Schulreformer im Visier stalinistischer Politik (1945–1959), Frankfurt/M. 2008; Reformpädagogik aus Schülersicht, Baltmannsweiler 2002.

Bibliografische Angabe

Kathrin Schmidt: Kapoks Schwestern, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016.