Rezension

Klaus Kreimeier: Joris Ivens. Ein Filmer an den Fronten der Weltrevolution

Rezensent: Joachim Gatterer

Buchcover von Klaus Kreimeier: Joris Ivens. Ein Filmer an den Fronten der Weltrevolution, Berlin: Oberbaum Verlag für Literatur und Politik 1976.

Die Geschichtswissenschaften sind bisweilen ähnlich trendabhängig wie die Modebranche. Gerade die Forschungen zu Arbeiterbewegung und Kommunismus lieferten in den vergangenen fünfzig Jahren eindringliche Belege dafür. Lagen sie für die 68er-Generation (zumindest in deren Jugendjahren) hochgradig im Trend, so schien es nach 1991, als seien plötzlich ganze Bibliotheken schlagartig Makulatur geworden. Klaus Kreimeiers leidenschaftlicher Biografie über den niederländischen Dokumentarfilmer Joris Ivens (1898–1989) aus dem Jahr 1976 erging es ähnlich. 2001 ließ sich sogar der Autor selbst zur Aussage verleiten, Ivens könne man nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus „in der Versenkung verschwinden lassen“ (Barbian/ Ruzicka (Hrsg.): Poesie und Politik, Filmgeschichte International Bd. 9,  S. 24).

Vor wenigen Jahren hat im Fall des politisch engagierten Ivens neuerlich eine Trendumkehr eingesetzt. Seine Aufnahmen aus europäischen Fabriken, Häfen und Kohleabbaugebieten der 1930er-Jahre, von den Befreiungskämpfen in Spanien, China und Südostasien bis hin zu seiner von den Naturgewalten inspirierten filmischen Autobiografie „Eine Geschichte über den Wind“ liegen seit 2009 in einer fünf-teiligen DVD-Box vor, der 2016 eine fast 800-seitige Werkübersicht folgte. Zu Ivens ideologischer Dekontamination dürften zusätzlich entsprechende Rezensionen beigetragen haben, die den Dokumentarfilmer nicht mehr auf seine kommunistische Überzeugung reduzieren, sondern ihn als Porträtisten jener sozialen Urkräfte zeigen, die das 20. Jahrhundert formten.

Die aktuelle Beschäftigung von Filmwissenschaftlern mit Leben und Werk von Joris Ivens eröffnet auch historisch Interessierten eine Reihe von Zugängen, die sich nicht auf eine erste Quellenkritik der Filmbilder beschränken sollten. Klaus Kreimeiers Buch ist in diesem Zusammenhang ein relevanter Mosaikstein in der ivensschen Rezeptionsgeschichte, weil es – anders als eine chronologische Biografie – vor allem ausführliche Darstellungen von Ivens’ filmischem Arbeitsprozess beinhaltet. Die Motivation, für das Aufzeigen menschenunwürdiger Zustände die authentischste, notfalls nachgestellte Szene zu finden, führte Ivens u. a. zum Genre des „Semi-Dokumentarfilms“ (Kreimeier, S. 22) – eine historiographische Verfahrensweise, die heute nicht nur im Kontext einer kommunistischen Kulturgeschichte, sondern vor allem mit Blick auf gegenwärtig erzeugte Geschichtsnarrative kritisch zu hinterfragen wäre.

Informationen über den Rezensenten:

Joachim Gatterer, Mag., forscht zur Arbeiterbewegung in Tirol und Südtirol und ist Projektmitarbeiter am Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck.

Bibliografische Angabe

Klaus Kreimeier: Joris Ivens. Ein Filmer an den Fronten der Weltrevolution, Berlin: Oberbaum Verlag für Literatur und Politik 1976.