Rezension

Kristen R. Ghodsee: Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben - Und andere Argumente für ökonomische Unabhängigkeit

Rezensentin: Anna Kaminsky

Cover von Kristen R. Ghodsee: Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben - Und andere Argumente für ökonomische Unabhängigkeit, Berlin: Suhrkamp Verlag 2019.

Um es gleich vorwegzunehmen: Anders als im Titel vorgegeben, geht es im Buch von Kristen R. Ghodsee nur ganz am Rande um Sex. Die bekennende Bernie-Sanders-Anhängerin befasst sich vielmehr mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der Frauenrechte. Ihr Buch zielt auf ein junges amerikanisches Publikum, das „wütend über die sexistische Politik unseres Frauen begrapschenden Obersten Twitterers“ und zugleich „in der von aggressivem Antikommunismus durchtränkten Kultur Amerikas gefangen“ sei. Ihr Ziel ist es, eine gesellschaftliche Alternative aufzuzeigen, in der Frauen- und Minderheitenrechte gewahrt werden und soziale Gerechtigkeit herrscht. Diese Alternative glaubt Ghodsee letztlich in der gesellschaftlichen Realität der Sowjetunion und ihrer ostmitteleuropäischen Satellitenstaaten gefunden zu haben. In ihrem Buch stellt sie den in düstersten Farben gezeichneten Zuständen in den Vereinigten Staaten Errungenschaften der staatssozialistischen Länder gegenüber. Dazu gehören für sie die sozialen Sicherungssysteme, die Gleichberechtigung von Frauen und Männer, das Zusammenleben zwischen den Geschlechtern und auch die Sexualität, auf die der verkaufsfördernde Buchtitel Bezug nimmt. Die Autorin leitet ihre Thesen zunächst historisch her. Sie rekapituliert zuerst die sozialdemokratischen und kommunistischen Vorstellungen von Frauenrechten seit dem neunzehnten Jahrhundert. In einem zweiten Schritt vergleicht sie die Problemlösungskompetenz von Sozialismus und Kapitalismus, wobei sie an Letzterem kein gutes Haar lässt. Nur der „demokratische Sozialismus“ könne die Probleme der Gegenwart lösen, wobei die 1970 geborene Professorin für Russische und Osteuropäische Geschichte an der University of Pennsylvania immerhin einräumt, dass dessen Prinzipien im Ostblock nur unzureichend umgesetzt worden seien. Daher komme es darauf an, die politischen Freiheiten des Westens mit der sozialen Absicherung des Ostens zu verbinden. Ein Schelm, wer da an einen Spruch aus den 1990er Jahren denkt: Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl. Um die von ihr durchaus wahrgenommene Diskrepanz zwischen dem realen Sozialismus und den sozialistischen Idealen zu verringern, erklärt Ghodsee Dänemark, Schweden, Finnland, Norwegen und Island mit ihren sozialen Sicherungssystemen kurzerhand zu sozialistischen Staaten. Diese „demokratisch-sozialistischen“ Länder würden beweisen, „dass eine humane Alternative zum neoliberalen Kapitalismus kein Hirngespinst“ sei. Doch werden die „sozialistischen“ Vorzüge dann vor allem am Beispiel staatssozialistischer Länder abgehandelt. Als dritten Zugang wählt die Autorin den Vergleich von Erfahrungsberichten von Frauen aus den Vereinigten Staaten und aus ehemaligen Ostblockstaaten. Einem in düsteren Farben gemalten Bild von in Abhängigkeit und Unterdrückung lebenden amerikanischen Frauen steht hier ein konträres Klischeebild ostmitteleuropäischer Geschlechtsgenossinnen gegenüber. Diese hätten ihr Sexualleben im ehemaligen Ostblock auch deshalb so sehr genießen können, weil der damit verbundene Rückzug ins Private einerseits zwar eine „Zuflucht vor dem allgegenwärtigen Staat“ gewesen sei, aber andererseits wegen des Fehlens „Kommerzieller Zerstreuungen“ auch mehr Genuss geboten hätte. Ohnehin sei Sex im Sozialismus- im Unterschied zum Kapitalismus- keine Ware gewesen. Im frisch vereinten Deutschland sei dann „die größere sexuelle Lust der Frauen in der DDR“ als „Bedrohung für das Überlegenheitsgefühl der Westdeutschen“ wahrgenommen worden. Für die Autorin hat 1989/90 in Ostmitteleuropa der Kapitalismus triumphiert“. Damals hätte nicht nur die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen geendet, in der ehemaligen DDR sei zudem die „ostdeutsche Lebensweise komplett ausradiert“ worden. Ghodsee spricht durchaus wichtige Themen an, aber ihr Eintreten für eine (real)sozialistische Alternative baut darauf, vom Leben im jeweils anderen System ein Zerrbild zu zeichnen, unliebsame Fakten auszublenden und historische Ereignisse auf sehr eigenwillige Weise zu interpretieren.

Informationen über die Rezensentin:

Dr. Anna Kaminsky, Studium an der Sektion Theoretische und angewandte Sprachwissenschaft (Schwerpunkt romanische Sprachen; Abschluss Sprachmittler) an der Karl-Marx-Universität in Leipzig; 1993 Promotion Dr. phil. zum Thema "Sprache in der Politik. Die Analyse politischer Texte des katalanischen Nationalismus 1898-1917"; 1993 bis 1998 Mitarbeit in verschiedenen Forschungs- und Ausstellungsprojekten u.a. am Berliner Institut für vergleichende Sozialforschung, an der Universität Münster, der Gedenkstätte Sachsenhausen und am Deutschen Historischen Museum; seit 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin, seit 2001 Director/Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Bibliografische Angabe

Kristen R. Ghodsee: Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben - Und andere Argumente für ökonomische Unabhängigkeit, Berlin: Suhrkamp Verlag 2019.