Rezension

Martin Malia: Vollstreckter Wahn. Rußland 1917-1991

Rezensent: Ilko-Sascha Kowalczuk

Cover von Martin Malia: Vollstreckter Wahn. Rußland 1917-1991, aus dem Amerikanischen von Susanne Lüdemann und Ute Spengler, Stuttgart: Klett-Cotta 1994.

Unter den vielen Publikationen des Russlandhistorikers Martin Malia (1924-2004) ragt die Gesamtgeschichte Sowjetrusslands aus dem Jahr 1994 als Opus Magnum hervor. Der stets in Berkeley lehrende und forschende Historiker legte sein Buch nur kurze Zeit nach dem Untergang der Sowjetunion vor. Malia zeichnet eine konstante Untergangsgeschichte von 1917 bis 1991. Historisch zutreffend erscheint Gorbatschow hier als Totengräber des Kommunismus wider Willen. Dies brachte Malia bei Erscheinen des weltweit stark beachteten Buches Kritik und den Vorwurf teleologischer Geschichtsbetrachtung ein. Dabei wurde oft übersehen, wie detailliert und empirisch dicht Malia gearbeitet hat. Anders als viele andere Russlandhistoriker war der Autor an einer gesellschaftsgeschichtlichen Analyse und Erzählung interessiert – beides gelang ihm in hervorstechender Weise. Er verknüpft Herrschafts- mit Gesellschaftsgeschichte, Ideologie- mit Kulturgeschichte, ohne dass er dabei seine Leserschaft mit theoretischen Ausführungen und Exkursen, wie nicht selten üblich, langweilt. Das Buch ist meinungsstark, der Autor verheimlicht seine Deutungen nicht. Hier begegnet der Leserschaft keine sterile, sich objektiv gebende Geschichtswissenschaft, sondern eine lebhafte, die nicht davor zurückscheut, Geschichte als aufregend, ansteckend und hinterlistig nahezubringen. Martin Malia bekannte in seinem Buch, dass es ihm vor allem darum gehe, nach dem Ende des Sowjetkommunismus die vergangene Epoche neu zu befragen, neu interpretieren zu wollen und die Begrifflichkeiten in Frage zu stellen. Tatsächlich ist sein Buch zwar zunächst ein äußerst lesbares Kompendium zur Geschichte des Sowjetkommunismus, in dem auch der sowjetische Imperialismus und die sowjetischen Satrapien keineswegs zu kurz kommen. Zugleich aber ist Malias Buch ein Beleg dafür, wie Anfang der 1990er-Jahre der Untergang des sowjetischen Imperiums gedeutet wurde und welche Hoffnungen damit verbunden waren. Denn gerade die russische Entwicklung, wie sie sich seither vollzog, war vor 25 Jahren von niemandem prognostiziert worden. Malia hingegen, was in der Rezeption des Werkes fast immer übersehen worden ist, kritisierte, dass sich mit den Revolutionen von 1989/91 keineswegs die Idee vom demokratischen Sozialismus erübrigt habe, da diese so lange leben werde, so lange es Ungleichheit und Ungerechtigkeit gebe. Insofern handelt dieses überaus eindrucksvolle Buch auch davon, wie der Untergang des Kommunismus sozialistische Ideen revitalisierte.

Informationen über den Rezensenten:


Ilko-Sascha Kowalczuk, geb. 1967 in Ost-Berlin, Zeithistoriker, lebt in Berlin, Autor zahleicher Bücher und anderer Publikationen.

Bibliografische Angabe

Martin Malia: Vollstreckter Wahn. Rußland 1917-1991, aus dem Amerikanischen von Susanne Lüdemann und Ute Spengler, Stuttgart: Klett-Cotta 1994.