Rezension

Richard Pipes: Die Russische Revolution

Rezensent: Ilko-Sascha Kowalczuk

Cover von Richard Pipes: Die Russische Revolution, Band 1: Der Zerfall des Zarenreiches, Berlin: Rowohlt 1992.

Richard Pipes (geb. 1923) emigrierte nach dem deutschen Überfall 1939 auf Polen mit seinen Eltern über Italien in die USA. Seit 1950 lehrte er an der Harvard Universität und war zudem einige Jahre in Stanford tätig. Er gilt als einer der einflussreichsten und wichtigsten angloamerikanischen Russland- und Sowjetunionhistoriker im 20. Jahrhundert. Wie eine Reihe seiner englischen und US-amerikanischen Kollegen arbeitete er für die Regierung und Politiker, u.a. war er 1981/82 im Nationalen Sicherheitsrat von Präsident Reagan Direktor für osteuropäische und sowjetische Angelegenheiten. Pipes war ein politischer Historiker, der politikhistorische Analysen favorisierte und mit seinen politischen Bewertungen nicht hinterm Berg hielt.
In der Geschichtswissenschaft gelten etwa seine Monographie über „Russland vor der Revolution“ (1974; dt. 1977) oder sein 1961 herausgegebenes Sammelwerk über die russische Intelligentsia längst als Klassiker. „Die Russische Revolution“ hingegen fand zwar breite Aufnahme, löste aber kaum Debatten aus. Als die drei Bände Anfang der 1990er-Jahre erschienen, sahen viele darin nur ein Abbild des herrschenden Zeitgeistes, der überall mit dem Kommunismus abrechnete. Richard Pipes Ablehnung des Kommunismus schlägt in diesem Monumentalwerk durch, keine Frage, aber die enorme Leistung des Autors verblasst dahinter keineswegs. Denn er beschreibt, erzählt, analysiert in einem dichten Maße die russischen Vorgänge zwischen 1899 und 1924 wie kaum ein zweiter Autor. Das hängt nicht nur mit dem Umfang zusammen, sondern auch damit, dass der politikhistorischen Perspektive von Pipes kaum etwas entgeht. Gerade wer umfassend in die russische Revolutionsgeschichte eintauchen möchte, aber bislang nur über rudimentäre Vorkenntnisse verfügt, wird bei Pipes bestens bedient, zumal sein Werk durchaus als Lesebuch bezeichnet werden kann. Die Schwäche von Pipes Ansatz liegt allerdings auch auf der Hand: sozial- und gesellschaftsgeschichtliche Betrachtungen kommen entschieden zu kurz. So erscheint bei ihm die Revolutionsgeschichte zu stark als eine bloße „Kopfgeschichte“, also als eine durch Ideen und weniger durch soziale Realitäten grundierte Entwicklung. Dennoch ist sein Werk nicht nur als Einstieg, sondern auch als Anregung und Quelle schier unerschöpflicher Beobachtungen ein Standardwerk, an dem bei aller Kritik wohl niemand vorbeikommt, der sich mit den revolutionären Umwälzungen in Russland kritisch auseinandersetzen möchte.

Informationen über den Rezensenten:

Ilko-Sascha Kowalczuk, geb. 1967 in Ost-Berlin, Zeithistoriker, lebt in Berlin, Autor zahleicher Bücher und anderer Publikationen.

Bibliografische Angabe

Richard Pipes: Die Russische Revolution, 3 Bände, Berlin: Rowohlt 1992–1993.