Rezension

Silke Kettelhake: Sonja „negativ – dekadent“. Eine rebellische Jugend in der DDR

Rezensent: Matthias Schlegel

Cover von Silke Kettelhake: Sonja „negativ – dekadent“. Eine rebellische Jugend in der DDR, Hamburg: Osburg Verlag 2014.

"Bei Anwendung eines Schlagstocks ist dieser nur aus dem Handgelenk zu schlagen und nicht mit gestrecktem Arm. Dabei ist der Schlag nur in die Weichteile des Gegners zu schlagen, ... da sonst größere körperliche Schäden entstehen können.“ In jedem Jahr wurden dem geschlossenen Jugendwerkhof Torgau vom Ministerium für Volksbildung 25 neue Schlagstöcke bewilligt. Im System der Heimerziehung in der DDR stand Torgau ganz oben - Endstation für unangepasste Jugendliche. 14- bis 18-jährige Jungen und Mädchen, die aus anderen Heimen ausgebüxt und wieder eingefangen worden waren. Teenager die sich gesellschaftlichen Normen verweigerten. Mehr als 4000 Jugendliche haben in den 20 Jahren des Bestehens die Hölle von Torgau durchlitten. Sonja Plog kam 1968 als 16-Jährige nach Torgau. Ein Kind noch, 1,53 Meter klein, 46 Kilo leicht. In diesem Buch erzählt die Journalistin Silke Kettelhake die Geschichte des Mädchens, das aus einer kaputten Familienwelt in Rostock ausbricht und sich zu den langhaarigen „Gammlern“ hingezogen fühlt. Sie sind den „Staatsorganen“ ein Dorn im Auge: negativ, dekadent, aufsässig. So erfährt Sonja, was der Staat unter „Umerziehung“ versteht: den Willen der Andersdenkenden zu brechen. Das Buch gibt dabei mehr über den Alltag in der DDR mit rigoroser Offenheit, überaus präzise und detailliert preis, als eine ganze Enzyklopädie. Es ist nicht nur ein lesenswerter Bericht über Liebe und Verrat, Abhängigkeit und Macht, über den Drang nach Unabhängigkeit und Freiheit im Unterdrückerstaat. Die Biografie zeigt zugleich, wie erbarmungslos das autoritäre Regime das Prinzip „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“ schon an seinen jüngsten Staatsbürgern durchexerzierte. Das Buch hat auch noch eine zweite Ebene: am 9. November 1989 ist die Mauer offen. Am 16. November 1989 meldet Sonja die erste Demonstration in ihrem Wohnort Neubukow an. Sie hält von der Kanzel der Stadtkirche ihre erste Rede. Als eine der mecklenburgischen Sprecherinnen vertritt sie das Land im Bundeskoordinierungsrat des Neuen Forum – und ist nach der ersten Wahl „völlig desillusioniert“; sie bleibt dennoch vier Jahre Fraktionsvorsitzende. „Ich merkte, dass ich nicht politikfähig bin, ich wollte keine faulen Kompromisse.“ Schließlich legt sie alle Ämter nieder. Was Sonja aus dieser Zeit berichtet, gehört zu den anschaulichsten Schilderungen der friedlichen Revolution überhaupt. 2004 erklärt das Landgericht Rostock die Heimerziehung Sonjas für rechtsstaatswidrig und rehabilitiert sie.

Informationen über den Rezensenten:

Matthias Schlegel, freier Journalist, zuvor langjähriger Redakteur beim "Tagesspiegel", Berlin

Bibliografische Angabe

Silke Kettelhake: Sonja „negativ – dekadent“. Eine rebellische Jugend in der DDR, Hamburg: Osburg Verlag 2014.