Rezension

Stefan Heym: 5 Tage im Juni

Rezensent: Marcel Fürstenau

Buchcover: Stefan Heym: 5 Tage im Juni. München: Bertelsmann Verlag 1974, 1. Auflage.

Als sowjetische Panzer am 17. Juni 1953 den DDR-Volksaufstand niederwalzen, irrt der Arbeiter August Kallmann mit einem Bild von Karl Marx unter dem Arm durch die Straßen Ost-Berlins. Diese symbolbeladene Szene in Stefan Heyms Zeitroman "Fünf Tage im Juni" wirkt fast schon kitschig. In ihr kulminiert die ganze Zerrissenheit, in der sich das politisch, aber noch nicht durch eine Mauer geteilte Deutschland damals befindet. Und das erleben die Menschen hüben wie drüben.
Für den Arbeiter Kallmann vom Volkseigenen Betrieb "Merkur" zerbricht an diesem Tag eine Illusion. Soll er weglaufen im Moment der Niederlage - als klar ist, dass der Ruf nach freien Wahlen vergeblich war? "Nein, ich bin Sozialist, ich hab ehrlich gearbeitet mein Leben lang, kein roter Panzer hat das Recht, mich plattzuwalzen; täten sie's, um so schlimmer für die Kommunisten." Kallmanns Gedanken stehen stellvertretend für das frühe moralische Scheitern des DDR-Sozialismus. Davon kann sich das Regime nicht mehr erholen, obwohl es erst 36 Jahre später endgültig bankrott ist. Weil 1989 keine sowjetischen Panzer rollen.
Bezeichnenderweise kann Heyms Roman in der DDR erst erscheinen, als sie nicht mehr zu retten ist. Dabei kommt der Westen darin alles andere als gut weg. Das Misstrauen der Zensoren gegenüber der eigenen Bevölkerung ist aber größer. Der zu Nazi-Zeiten exilierte Antifaschist Heym, 1952 nach Ost-Berlin übergesiedelt, illustriert diesen Kardinalfehler, diese Charakterschwäche des Systems im Zeitraffer: eben "Fünf Tage im Juni". Eine fiktive Geschichte vor historischem Hintergrund. Ortsnamen sind real (Potsdamer Platz), dokumentarisch die Rede-Ausschnitte des SED-Vorsitzenden Otto Grotewohl und Kommentare des Rundfunks im Amerikanischen Sektor (RIAS).
Heyms Roman über dieses Schlüsselereignis der deutsch-deutschen Teilung, der Ost-West-Konfrontation wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg eignet sich für Leser jeder Generation als Kommunismus-Studie. Sie liefert das, was wissenschaftlichen Abhandlungen zwangsläufig fehlen muss: Atmosphäre. Ein Gefühl für die Widersprüchlichkeit eines Systems, in dem die Partei immer recht hat. Die Hauptfigur Martin Witte, ein sympathischer Gewerkschaftsfunktionär, der zwischen Regierenden und Regierten vermitteln will, resigniert schließlich.
"Das Schlimmste wäre, für das eigene Versagen den Feind verantwortlich machen zu wollen. Wie mächtig wird dadurch der Feind!" Beim Feind, im kapitalistischen Westen, erscheint das Buch schon in den 1970er Jahren. 

Informationen über den Rezensenten:

Marcel Fürstenau arbeitet als politischer Korrespondent für die Deutsche Welle. Im geteilten Berlin wuchs er direkt an der Mauer auf. Sein Blick ging von West nach Ost. Er studierte Germanistik und Publizistik an der Freien Universität Berlin. Nach dem Besuch der Deutschen Journalistenschule (DJS) in München arbeitete er u.a. für den Rundfunk im Amerikanischen Sektor (RIAS) und den "Tagesspiegel".

Bibliografische Angabe

Stefan Heym: 5 Tage im Juni, München: Bertelsmann Verlag, 1. Aufl. 1974.