Valentin Gitermann: Die historische Tragik der sozialistischen Idee
Geboren in der Ukraine, lebte Valentin Gitermann (1900–1965) seit 1907 in der Schweiz. Der Historiker arbeitete als Lehrer, Redakteur und war zwei Jahrzehnte als Sozialdemokrat Abgeordneter im Nationalrat. Einem breiten Lesepublikum im deutschsprachigen Raum ist Gitermann als Autor im neunten Band der Propyläen Weltgeschichte 1960 bekannt geworden. In dem von Golo Mann herausgegebenen sehr erfolgreichen Werk schrieb Gitermann über die Russische Revolution. Golo Mann wird auf Gitermann aufmerksam geworden sein, weil sich dessen dreibändiges Werk „Geschichte Russlands“, das von 1944 bis 1949 erschienen war, durch eine glänzende schriftstellerische Leistung auszeichnete und somit Manns Ansprüche, Geschichtsschreibung müsse stilistisch hervorragend sein, um wahrgenommen zu werden, erfüllte. Gittermanns Russlandgeschichte ist heute noch sehr zu empfehlen, auch wenn sie gegenwärtigen wissenschaftlichen Mainstream-Lesegewohnheiten wohltuend zuwiderläuft. Das gilt auch für die am Vorabend des Zweiten Weltkriegs erschienene Studie „Die Historische Tragik der sozialistischen Idee“. Darin setzt sich Gitermann mit der Theorie des Marx’schen Sozialismus auseinander. Mit einem sozialdemokratischen Hintergrund argumentierend, geht er auf die dem Marxismus inhärenten Widersprüche ein und seziert so zugleich die von der Theorie ausgehenden politischen Praxisprobleme. Das Grundproblem sieht er darin, dass die sozialistische Idee eine Utopie darstellt, die, soll sie realisiert werden, in einer Diktatur münden müsse. Das stellt Gitermann wiederum an der Entwicklung in Russland/Sowjetunion einerseits und Deutschland andererseits dar. Er analysiert wie selbstverständlich diese beiden Länder – damals ein ganz übliches Verfahren, dass erst nach 1945 mehr und mehr unter Generalverdacht geriet. Bei Gitermann findet keine Parallelisierung statt. Er zeigt, warum sich in Russland die Bolschewiki zu nichts anderem als einer kommunistischen Diktatur fähig zeigten. Mit Blick auf Deutschland erklärt Gitermann, warum die Nationalsozialisten den Sozialismus-Begriff lediglich als Tarnkappe benutzen und den Kapitalismus in seinem Kern nicht angreifen. Dieses historisch sehr interessante Buch endet mit einem durchaus aktuellen Ausblick: die sozialistische Idee wird immer ein Maßstab für menschliche Gesellschaften bleiben, so Gitermann, da sie in einer ungerechten und ungleichen Welt vollkommen erscheint, aber auch nie ansatzweise verwirklicht werden kann.
Informationen über den Rezensenten:
Ilko-Sascha Kowalczuk, geb. 1967 in Ost-Berlin, Zeithistoriker, lebt in Berlin, Autor zahleicher Bücher und anderer Publikationen.
Bibliografische Angabe
Valentin Gitermann: Die historische Tragik der sozialistischen Idee. Zürich/New York: Verlag Oprecht 1939.