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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Grigorenko, Pjotr

* 1907 ✝ 1987




Geboren wurde Pjotr Grigorenko (Petro Hryhorenko) 1907 in einer Bauernfamilie in dem südukrainischen Dorf Borisowka bei Saporischschja. Er arbeitete als Schlosser, Bahnarbeiter, Heizer und Lokführer und war in der Bewegung des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol aktiv. Grigorenko organisierte 1922 eine Komsomol-Gruppe in seinem Heimatdorf, war 1930 Delegierter des Komsomol-Treffens und 1929–31 Mitglied des Zentralkomitees des Komsomol der Ukraine. 1927 trat er der Kommunistischen Partei bei. 1929 schloss er die Arbeiter-Universität ab und studierte anschließend bis 1931 an der Fakultät für Ingenieur-und Bauwesen des Technologischen Instituts in Charkiw im Nordosten der Ukraine.

1931 wurde er Berufssoldat, schloss die Militärische Ingenieurhochschule „W. W. Kuibyschew“ ab, diente von 1934 bis 1937 in der Führung der Roten Armee im Belarussischen Armeebezirk und studierte anschließend an der Akademie des Generalstabes. 1939–43 diente er im Fernen Osten, wo er 1939 an den Kämpfen am Fluss Chalchin-Gol im japanisch-sowjetischen Grenzkonflikt beteiligt war. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er 1944/45 gegen die Deutschen, wobei er zwei Mal verwundet wurde. Das Kriegsende erlebte er im Rang eines Obersts als Stabschef einer Division. Grigorenko erhielt den Lenin-Orden und andere hohe Auszeichnungen.

Von Dezember 1945 bis September 1961 war er Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Militärakademie „M. W. Frunse“. Er promovierte 1948 in Militärwissenschaften und schrieb zahlreiche Arbeiten zur Geschichte und Theorie des Militärwesens und der Kybernetik. Ab 1959 leitete er im Rang eines Generalmajors den Lehrstuhl für operativ-taktische Ausbildung. Im August 1961 vollendete er seine Habilitationsschrift.

Nach dem XX. Parteitag der KPdSU, auf dem erstmals mit Stalins Verbrechen abgerechnet wurde, zog Grigorenko die Schlussfolgerung, dass das politische System der Sowjetunion nicht den Idealen des Leninismus entspräche. Er entschied sich, seine Meinung öffentlich zu machen und nutzte hierfür die im Sommer und Herbst 1961 stattfindende Diskussion über den Entwurf des KPdSU-Parteiprogramms: „In meiner Seele war ein Durcheinander entstanden. Es fiel mir schwer, die Heuchelei der Regierenden schweigend zu ertragen, obwohl mir gleichzeitig bewusst war, dass ein Aufbegehren mich den vollständigen Verlust meiner stabilen und zufriedenstellenden Verhältnisse kosten würde [...]. Immer heftiger bedrängte mich der bereits seit Langem bestehende Gedanke: Ich darf nicht schweigen.“

Am 7. September 1961 trat Grigorenko auf der Regionalkonferenz der Partei in Moskau mit folgendem Appell auf: „Es ist Nachdruck auf die Demokratisierung von Wahlen und auf die Rotation der Kader zu legen, auf Verantwortung gegenüber den Wählern. Alle Umstände müssen beseitigt werden, die Verstöße gegen leninistische Normen und Prinzipien darstellen, insbesondere die hohen Gehälter und die Unantastbarkeit der Ämter.“ Auf Anordnung des ZK der KPdSU wurde ihm daraufhin wegen „politischer Unreife“ das Mandat als Delegierter entzogen. Kurze Zeit später durfte er keine Vorlesungen an der Akademie mehr halten, er wurde mit einer harten Parteistrafe belegt und in den Armeebezirk Fernost strafversetzt.

In Ussurijsk im äußersten Südosten der Sowjetunion kam er zu der Überzeugung, dass er gegen die Führung der KPdSU vorgehen müsse. Er begann ein kritisches Pamphlet zu schreiben und schickte es an eine Zeitung. Im Herbst 1963, als er im Urlaub in Moskau war, organisierte er eine Gruppe in der Untergrundbewegung für den Kampf um die Wiedergeburt des Leninismus, der sich seine Söhne und einige von deren Freunden – Studenten und Offiziere – anschlossen. Er verfasste sieben Flugblätter, die in Moskau, Wladimir, Kaluga und unter den Soldaten der Armeebezirke Leningrad und Mittelasien verbreitet wurden, einige davon in einer Auflage von bis zu 100 Exemplaren. Die Flugblätter kritisierten die Bürokratisierung des Staates, die repressive Politik gegenüber den Arbeitern, die bei der Niederschlagung von Protesten in Nowotscherkassk, Temirtau und Tiflis zum Tragen gekommen war, sowie die Lebensmittelkrise im Land.

Am 1. Februar 1964 wurde Grigorenko auf dem Flughafen von Chabarowsk vom KGB festgenommen, nach Moskau gebracht und dort in einem KGB-Gefängnis inhaftiert. Beim ersten Verhör lehnte er den Vorschlag des KGB-Vorsitzenden Wladimir Semitschastny ab, Selbstkritik zu üben und so Verhaftung und Gerichtsverfahren zu entgehen. Grigorenko wurde nach *Artikel 70 Strafgesetzbuch der RSFSR angeklagt und zur gerichtspsychiatrischen Begutachtung ins *Serbski-Institut überstellt. Das Gutachten vom 19. April 1964 stellte seine vermeintliche Unzurechnungsfähigkeit fest und diagnostizierte eine „paranoide Persönlichkeitsentwicklung, die mit psychopathischen Charaktereigenschaften einhergeht“. Nach Grigorenkos Meinung wurde die Entscheidung, ihn für verrückt zu erklären, direkt vom Politbüro getroffen. Anderen Mitgliedern seiner Untergrundorganisation wurde im Ermittlungsverfahren vorgeworfen, „sich unter dem Einfluss eines Geisteskranken zu befinden“ und sie selbst außergerichtlichen Repressionen ausgesetzt.

Am 17. Juli 1964 wurde Grigorenko auf Beschluss des Obersten Militärgerichtes der UdSSR zur Zwangsbehandlung in ein *psychiatrisches Krankenhaus besonderen Typs in Leningrad eingewiesen und am 29. August per Ministerratsbeschluss auf den Rang eines einfachen Soldaten degradiert. Dies ließ erkennen, dass die Machthaber ihn nicht als psychisch Kranken, sondern als politischen Verbrecher behandelten. Während seiner Inhaftierung lernte er Alexei Dobrowolski kennen, der wegen konspirativer Tätigkeiten verurteilt worden war.

Kurz nach der Entmachtung Nikita Chruschtschows, der das hauptsächliche Ziel von Grigorenkos Kritik gewesen war, wurde er am 22. April 1965 als „geheilt“ aus dem Krankenhaus entlassen. Er arbeitete fortan als Wächter, Touristenführer, Belader und Meister in einer Baufirma.

Im Frühjahr 1966 machte ihn Alexej Dobrowolski mit Wladimir Bukowski bekannt, über den er in Moskauer Kreise von unabhängig denkenden Menschen gelangte. Grigorenko freundete sich mit dem Altbolschewiken Sergei Pisarew an, der erstmals das System der Strafpsychiatrie in der UdSSR offenlegte, sowie mit dem Schriftsteller Alexei Kosterin. Grigorenko erhielt von ihnen unabhängige Publikationen und schloss sich, nachdem er von den stalinistischen Repressionen gegen kleinere Völker erfahren hatte, dem Kampf der Krim-Tataren um die Rückkehr in ihre historische Heimat an.

Im Herbst 1967 schrieb er die historisch-publizistische Streitschrift „Das Verschweigen der historischen Wahrheit ist ein Verbrechen am Volk“ (Sokrytie istoričeskoj pravdy – prestuplenie pered narodom), in der er eine detaillierte Analyse der Ursachen für die Niederlagen der Roten Armee in der Anfangsphase des Zweiten Weltkrieges entwickelte und mit Stalin und den ihm unterstellten Militärführerern die direkten Schuldigen benannte. Grigorenkos Schrift wurde im Samisdat verbreitet, verschaffte ihm als Autor Popularität und machte ihn zu einer wichtigen Figur in der aufkommenden Dissidentenbewegung.

1967/68 war Grigorenko Mitinitiator und aktiver Teilnehmer an einer Kampagne, in der Petitionen für die Angeklagten im *Prozess der Vier verfasst wurden. Er trat auch für die Verteidigung von Anatoli Martschenko, Irina Belogrodskaja und anderer ein. Gemeinsam mit Alexei Kosterin schrieb er im Februar 1968 einen *Brief an das Präsidium des Beratungstreffens der kommunistischen und Arbeiterparteien in Budapest mit der Bitte, ihnen beiden als Vertreter der „kommunistischen Opposition“ in der Sowjetunion Rederecht einzuräumen. Nachdem ihr Schreiben ohne Antwort geblieben war, richteten sie einen Appell an die Kommunisten der Sowjetunion und anderer Länder, in dem sie den Stalinismus als „tödliche Krankheit des Kommunismus“ brandmarkten.

In der Zeit des *Prager Frühlings unterstützte Grigorenko den demokratischen Wandel in der Tschechoslowakei, war einer der Verfasser eines offenen Briefes an die Mitglieder der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei und an das tschechoslowakische Volk, in dem er diesen zu den Veränderungen in ihrem Land gratulierte. Er schrieb auch einen persönlichen Brief an den tschechoslowakischen Parteichef Alexander Dubček mit Ratschlägen zur Verteidigung seines Landes für den Fall einer sowjetischen Invasion. Diesen Brief übermittelte er an die Botschaft der Tschechoslowakei in Moskau. Grigorenko setzte sich außerdem für die Teilnehmer der *Demonstration der Sieben ein und forderte die Sowjetbürger auf, einen Rückzug der Truppen aus der Tschechoslowakei zu verlangen.

Ende 1968 schrieb Grigorenko den Aufsatz „Über psychiatrische Spezialkliniken (Irrenanstalten)“ (O special’nych psichiatričeskich bol’nicach/durdomach), der in das Buch „Mittag“ (Polden‘) von Natalia Gorbanewska aufgenommen wurde: „Die Struktur der Irrenhäuser, die völlige Rechtlosigkeit und das Fehlen einer realen Perspektive, die Freiheit wiederzuerlangen – auf diese furchtbaren Tatsachen trifft jeder, der in eine psychiatrische Spezialklinik eingewiesen wird. Wir müssen für eine vollständige Änderung des Begutachtungssystems und der Einsperrung von Patienten in psychiatrische Kliniken kämpfen, sowie darum, eine tatsächliche gesellschaftliche Kontrolle über die Bedingungen von Unterbringung und Behandlung der Patienten in diesen Krankenhäusern zu erreichen.“



Ab 1968 initiierte Grigorenko Diskussionen über die Notwendigkeit, der entstehenden Dissidentenbewegung organisatorische Formen zu geben. Er war glühender Verfechter der Gründung eines Menschenrechtskomitees. Diese Idee wurde, nachdem er bereits verhaftet worden war, mit der Einberufung der *Initiativgruppe zur Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR umgesetzt.

Den Krimtataren half Grigorenko oftmals, er wurde ihr informeller Anführer im Kampf um die Rückkehr auf die Krim. Bei einem Bankett, das von krimtatarischen Vertretern in einem Moskauer Hotel zum 72. Geburtstag von Alexei Kosterin gegeben wurde, sagte Grigorenko: „Hört auf zu bitten! Nehmt das zurück, was euch dem Recht nach zusteht und was euch widerrechtlich genommen wurde!“ Am 17. Mai 1968 nahm er an einer Demonstration der Krimtataren vor dem Gebäude des Zentralkomitees der KPdSU teil und forderte, ihn zusammen mit den Tataren zu verhaften. Im Sommer 1968 stellte er Informationen über Verstöße gegen die Rechte der Krimtataren, die versuchten, von ihren Verbannungsorten auf die Krim zurückzukehren, für westliche Korrespondenten zusammen.

Grigorenko war Organisator der Trauerfeier für Alexei Kosterin, die eine eindrucksvolle erste Demonstration der Moskauer Opposition war. Grigorenko hielt die Trauerrede, die er mit folgenden Worten beendete: „Die Freiheit wird kommen! Die Demokratie wird kommen! Deine Asche wird auf der Krim ruhen!“ Grigorenko erstellte anschließend an der Zensur vorbei den Sammelband „Zum Gedenken an A. J. Kosterin“ (Pamiati A. J. Kosterina), der im November 1968 herauskam, und schrieb einen Aufsatz, der die Fälschung der Zahl der Toten bei der *Deportation der Krimtataren 1944 durch sowjetische Behörden kritisierte.

Die sowjetischen Behörden versuchten, Grigorenkos Kontakte zur Bewegung der Krimtataren zu unterbinden: Am 19. November 1968 wurde auf Befehl der usbekischen Staatsanwaltschaft in seiner Moskauer Wohnung eine mehrstündige Hausdurchsuchung durchgeführt, wobei sein gesamtes Archiv konfisziert wurde. Auf Bitten von Krimtataren begann er im Frühjahr 1969, sich auf die Rolle als Bürgervertreter im Prozess gegen die Teilnehmer an den *Ereignissen in Chirchiq (Usbekistan) vorzubereiten. Trotz Drohungen des KGB flog er mit der vorbereiteten Verteidigungsrede „Wer sind hier die Verbrecher?“ (Kto že prestupniki?) nach Taschkent, der Hauptstadt der Usbekischen SSR. Dort wurde Grigorenko am 7. Mai 1969 verhaftet, bis Oktober desselben Jahres in Untersuchungshaft des usbekischen KGB festgehalten und nach Paragraf 1 des *Artikels 70 Strafgesetzbuch der RSFSR angeklagt. Vom 13. bis 28. Juni trat er aus Protest gegen seine rechtswidrige Verhaftung in den Hungerstreik, worauf hin man ihn zwangsernährte, schlug und erniedrigte. Seine Tagebucheintragungen über diese Zeit, das aus dem Gefängnis geschmuggelt werden konnte, wurde in der *„Chronik der laufenden Ereignisse“ veröffentlicht.

Ein in Taschkent erstelltes gerichtspsychiatrisches Gutachten stellte fest, dass Grigorenko zurechnungsfähig sei. Diese Entscheidung stellte die Behörden nicht zufrieden, woraufhin er im Oktober 1969 nach Moskau gebracht wurde, wo Psychiater des *Serbski-Instituts das Taschkenter Gutachten als fehlerhaft einstuften. Am 4. Dezember wurde er wieder zurück nach Usbekistan gebracht, wo der Prozess stattfinden sollte. Das Stadtgericht von Taschkent wies ihn am 27. Februar 1970 zur Zwangsbehandlung in ein *psychiatrisches Krankenhaus besonderen Typs in Tschernjachowsk (Region Kaliningrad) ein.

Mit Grigorenkos Verhaftung begann innerhalb und außerhalb der Sowjetunion eine lebhafte Kampagne zu seiner Freilassung. Die Krimtataren protestierten vor dem Gefängnis in Taschkent. Auch auf einer krimtatarischen Demonstration am 6. Juni 1969 auf dem Majakowski-Platz in Moskau wurde seine Freilassung gefordert. Hunderte unterzeichneten eine entsprechende Petitionen und im Samisdat erschienen zwei wichtige Aufsätze: „Licht im Fenster“ (Svet v okonce) von Anatoli Lewitin-Krasnow und „Zur Verhaftung General Grigorenkos“ (K arestu generala Grigorenko) von Boris Zukerman. Zwei Studenten aus Skandinavien ketteten sich am 6. Oktober 1969 im Moskauer Warenhaus GUM an ein Geländer an und verteilten Flugblätter zur Verteidigung von Grigorenko. In Moskau und Leningrad fanden im Januar 1970 ähnliche Aktionen von norwegischen, italienischen und belgischen Menschenrechtsaktivisten statt. Mit der Verteidigung von Grigorenko begann auch Andrei Sacharow, regelmäßig für die Menschenrechte einzutreten. Im Samisdat wurde die anonyme Publikation „Externes psychiatrisches Gutachten in der Sache Grigorenko“ (Psichiatričeskaja zaočnaja ėkspertiza po delu Grigorenko) verbreitet; später bekannte sich Semen Hlusman dazu, sie verfasst zu haben. Als Wladimir Bukowski 1971 eine Kopie der Schlussfolgerungen aus gerichtspsychiatrischen Gutachten über Grigorenko und andere Dissidenten, die für unzurechnungsfähig erklärt worden waren, in den Westen schmuggelte, begannen westliche Mediziner, Druck auf sowjetische Psychiater auszuüben. In Amsterdam erschien 1973 eine Auswahl von Grigorenkos Texten unter dem Titel „Gedanken eines Verrückten“ (Mysli sumasšedšego), zu denen auch seine Gefängnistagebücher gehörten. Das Buch wurde im gleichen Jahr in England verfilmt.

Am 19. September 1973 wurde Grigorenko in ein *psychiatrisches Krankenhaus allgemeinen Typs in der Nähe von Moskau verlegt. Am 24. Juni 1974 entschied das Moskauer Stadtgericht am Vortag des Staatsbesuches von US-Präsident Richard Nixon, seine Zwangsbehandlung einzustellen.

Kurz nach seiner Freilassung nahm Grigorenko seine dissidentischen Aktivitäten wieder auf. Er setzte sich für Mustafa Dschemiljew ein und unterschrieb eine Erklärung gegen die Pressekampagne gegen Andrei Sacharow, nachdem diesem der Friedensnobelpreis verliehen worden war. Grigorenko unterzeichnete den „Offenen Appell“ an die Delegierten und Gäste des XXV. Parteitags der KPdSU, der in der Sowjetunion und den anderen Ländern Osteuropas eine allgemeine Amnestie für politische Häftlinge forderte. Im Sommer 1977 unterschrieb er einen Brief an das Politbüro und kritisierte darin, dass die geplante Verfassungsänderung die Macht der kommunistischen Partei weiter ausweite. Zu dieser Frage gründete er das unabhängige Bulletin „Rund um den Verfassungsentwurf der UdSSR“ (Vokrug Projekta Konstitucii).

Grigorenko war Gründungsmitglied der *Moskauer Helsinki-Gruppe, unterschrieb die meisten ihrer 1976/77 entstandenen Dokumente und war einer der Initiatoren der *Arbeitskommission zur Erforschung des Einsatzes der Psychiatrie zu politischen Zwecken bei der *Moskauer Helsinki-Gruppe. An der Gründung der *Ukrainischen Helsinki-Gruppe beteiligte er sich ebenfalls als Gründungsmitglied. Er setzte sich für verhaftete Mitglieder der Helsinki-Gruppe ein, darunter Alexander Ginsburg, Juri Orlow, Anatoli Schtscharanski, Wladimir Slepak, Nikolai Rudenko, Olexa Tychyj und Swiad Gamsachurdia. Im Februar 1977 gab er die Broschüre „Unser Alltag“ (Naši budni) heraus, die die Bekämpfung der Helsinki-Bewegung durch den KGB thematisierte. Er führte außerdem den Kampf für die Rechte der Krimtataren fort und setzte durch, dass die *Moskauer Helsinki-Gruppe eine Erklärung verabschiedete, die mit den Worten „Die Diskriminierung der Krimtataren dauert an“ begann.

Am 5. Dezember 1976 nahm Grigorenko an der regelmäßigen Demonstration von Menschenrechtsaktivisten auf dem Moskauer Puschkin-Platz teil (siehe *Glasnost-Kundgebung) und hielt dort eine kurze Ansprache, in der er sagte: „Ich danke allen, die hierher gekommen sind, um an Millionen unschuldig getöteter Menschen zu erinnern! Ich danke euch auch dafür, dass ihr mit eurer Anwesenheit die Solidarität mit Gewissenshäftlingen zum Ausdruck bringt!“



Im November 1977 erhielt Grigorenko die Ausreisegenehmigung in die USA für eine halbjährliche medizinische Behandlung. Während seines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten enthielt er sich politischer Auftritte, trotzdem wurde ihm vom Präsidium des Obersten Sowjets am 13. Februar 1978 die sowjetische Staatsbürgerschaft wegen angeblicher „Handlungen, die eines Sowjetbürgers unwürdig sind“, entzogen. Auf einer daraufhin in New York einberufenen Pressekonferenz äußerte Grigorenko, dass dies der schmerzhafteste Tag seines Lebens sei: „Man hat mir das Recht genommen, in meiner Heimat zu sterben.“

Auf eigenen Wunsch unterzog sich Grigorenko 1978 in den USA einer psychiatrischen Begutachtung. Anzeichen für eine psychische Erkrankung wurden nicht gefunden: „Alle Eigenschaften seiner Persönlichkeit wurden von den sowjetischen Diagnostikern verzerrt. Dort, wo sie Zwangsvorstellungen diagnostizierten, haben wir Beharrlichkeit gefunden. Dort, wo sie Wahnvorstellungen feststellten, haben wir einen gesunden Menschenverstand gesehen. Wo sie Unbesonnenheit fanden, stellten wir eine konsequente Entschlossenheit fest. Was sie als pathologisch bewerteten, ist Ausdruck seiner seelischen Gesundheit.“

Grigorenko war fortan Vertreter der *Ukrainischen Helsinki-Gruppe im Ausland. Im Exil verlor er endgültig seine kommunistischen Überzeugungen, wurde Mitglied der ukrainischen Exilgesellschaft in den USA und bekannte sich zum orthodoxen Glauben.

Pjotr Grigorenko starb 1987 in New York. Er wurde auf dem ukrainischen Friedhof in Bound Brook, New Jersey, beigesetzt.

Im November 1991 kam eine medizinische Kommission der Obersten Militärstaatsanwaltschaft nach erneuter Auswertung von Grigorenkos Akten zu dem Schluss, dass er gesund war. Nach dem Ende der Sowjetunion verlieh ihm der Präsident der Russischen Föderation 1993 posthum wieder den Dienstgrad eines Generalmajors. Nach Grigorenko sind eine Allee in Kiew und Straßen in verschiedenen Orten auf der Krim benannt.


Dmitrij Zubariew, Giennadij Kuzowkin
Aus dem Polnischen von Markus Pieper und Sonja Stankowski
Letzte Aktualisierung: 03/16

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.