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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Müller, Rainer

* 1966




Rainer Rudolf Müller wurde am 26. September 1966 in Borna bei Leipzig geboren und wuchs in Benndorf bei Frohburg auf. Trotz sehr guter schulischer Leistungen erhielt er 1983 keine Möglichkeit, das Abitur abzulegen, da er nicht an der obligaten Jugendweihe teilgenommen hatte, sich in der kirchlichen Jugendarbeit engagierte und als 15-Jähriger wegen Tragens des Aufnähers „Schwerter zu Pflugscharen“ in Konflikte mit den Repressionsorganen der DDR geraten war. Während seiner Maurerlehre beteiligte er sich 1984 an einem fünfwöchigen Streik für bessere Arbeitsbedingungen. Daraufhin erhielt er nach seinem Berufsabschluss 1985 keine Anstellung, obwohl das den Gesetzen der DDR widersprach. Er arbeitete dann in kirchlichen Einrichtungen in Borna südlich von Leipzig.

1984 beantragte Müller den waffenlosen Wehrdienst, kündigte 1986 seine Totalverweigerung an und wurde nicht einberufen. 1987 entzog ihm jedoch die Karl-Marx-Universität Leipzig wegen seiner Wehrdienstverweigerung die Studienzulassung, die er 1986 durch eine Sonderreifeprüfung für künftige Theologiestudenten erlangt hatte. Ein Jahr später begann er ein Studium am Theologischen Seminar Leipzig und arbeitete in den Semesterferien als Behindertenbetreuer und Altenpfleger. Vom Theologischen Seminar wurde er 1988 wegen seiner Kritik, die er im Rahmen der Friedensgebete in der Nikolaikirche am SED-freundlichen Kirchenkurs übte, exmatrikuliert. Er konnte an der staatlich nicht anerkannten kirchlichen Hochschule fortan nur noch Gasthörer sein. In Leipzig unterstützte der oppositionelle Arbeitskreis Gerechtigkeit (AKG), zu dessen Sprecherkreis er ab 1988 gehörte, den nun Erwerbslosen mit monatlich rund 125 Mark.

Müller arbeitete in verschiedenen Umwelt-, Friedens- und Menschenrechtsgruppen mit. Ab 1986 hatte er engeren Kontakt zur Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM), ab 1987 engagierte er sich im Arbeitskreis Solidarische Kirche, 1987–89 in der Umweltgruppe Borna, 1987 in der Arbeitsgruppe Menschenrechte (AGM) um Pfarrer Christoph Wonneberger, 1988/89 im ,Arbeitskreis Gerechtigkeit und zudem ab 1988 in der Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR.

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) verfolgte ihn im Operativen Vorgang (OV) „Märtyrer“, plante Ende 1988 seine Inhaftierung (zusammen mit Gesine Oltmanns und Thomas Rudolph) und schreckte nicht davor zurück, ihn im Mai 1989 körperlich zu misshandeln. Mehrfach wurde er bei Demonstrationen festgenommen, inhaftiert, mit Aufenthaltsverboten oder Geldstrafen belegt. Während der Friedensbewegung hielt er Kontakte zu Kreisen in anderen Orten wie Großhennersdorf und Vipperow, wo er am Fasten für den Frieden teilnahm. Zudem galten seine Aktivitäten vornehmlich der Umweltpolitik. Er gab 1985–87 mit Hartmut Rüffert in Borna die Samisdat-Zeitschrift „Namenlos“ heraus. Die Umweltgruppe Borna vertrat er im Netzwerk „Frieden konkret“. Anlässlich einer Demonstration gegen das im Bau befindliche Atomkraftwerk Stendal wurde er festgenommen.

Leipzig avancierte ab 1988 zu einem Zentrum der Opposition. Die Massendemonstrationen, die das Ende der kommunistischen Diktatur besiegelten, fanden hier ihren Ausgang. Dies war das Ergebnis der fruchtbaren Zusammenarbeit mehrerer Leipziger Basisgruppen und ihrer auf Öffentlichkeit und Durchsetzung von Menschenrechten gerichteten Aktivitäten. Ausreiseantragsteller wurden nicht ausgegrenzt und damit das Widerstandspotenzial derer genutzt, die in der DDR nichts mehr zu verlieren hatten und zu existenzgefährdenden Aktivitäten bereit waren.

Nach den Verhaftungen und Zwangsausweisungen Berliner Oppositioneller im Januar 1988 verstärkten Thomas Rudolph, Bernd Oehler, Rainer Müller und andere Leipziger ihre Bemühungen um eine überregionale Koordinierung und riefen im Sommer 1988 den Sonnabendskreis ins Leben. Monatlich luden sie Vertreter von unabhängigen Bibliotheken, Samisdatredaktionen, Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtskreisen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Berlin nach Leipzig ein, um Erfahrungen und Informationsmaterialien auszutauschen, gemeinsame Aktionen vorzubereiten und politische Erklärungen zu verfassen.

Aus dem Sonnabendskreis ging die Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR hervor, die am Internationalen Tag der Menschenrechte 1988 ihre Arbeit aufnahm. In dem Gründungsaufruf wurden grundlegende Bürgerrechte eingefordert. Informationen über Menschenrechtsverletzungen sollten zu gesellschaftlichen Veränderungen führen.

Mit Mahnwachen und Fürbittgottesdiensten wurden im November 1987 und im Januar 1988 die Freilassung der in Ost-Berlin Inhaftierten gefordert. Anfang 1989 riefen die Arbeitsgruppe Menschenrechte und der Arbeitskreis Gerechtigkeit zu einem DDR-weiten Aktionstag für die aus politischen Gründen Inhaftierten in der Tschechoslowakei auf. Müller lernte Tschechisch, um Oppositionsdokumente übersetzen und in der DDR in den Untergrundzeitschriften „Ostmitteleuropa“ und „Varia“ verbreiten zu können. In der Arbeitsgruppe Ostmitteleuropa des Arbeitskreises Gerechtigkeit hielt er mit Thomas Rudolph Kontakte in die ČSSR. Mit Petr Uhl, der die gemeinsame Gegenöffentlichkeit osteuropäischer Oppositioneller vorantrieb, wurden regelmäßig Informationen ausgetauscht. Auch in die meisten anderen Länder Ost- und Ostmitteleuropas bestanden stabile Kontakte zu Oppositionsgruppen.

 



Im Januar 1989 wurde Müller mit zehn weiteren Aktiven nach dem Verteilen von Flugblättern festgenommen. Sie hatten zu einer Demonstration für Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Pressefreiheit aufgerufen, die aus Anlass des Todestages von Rosa Luxemburg diesmal in Leipzig stattfand. Anders als im Vorjahr in Berlin wurden die Inhaftierten nach in- und ausländischen Protesten eine Woche später in die DDR freigelassen.

Die Leipziger Basisgruppen drängten mit fantasievollen Aktionen in den öffentlichen Raum. Zum Weltumwelttag 1988 war der „Pleiße-Gedenk-Marsch“ durch die Leipziger Innenstadt entlang des verseuchten und versiegelten Flusses Pleiße initiiert worden. Müller hatte sich auch hier engagiert. Beim zweiten Pleiße-Marsch 1989 kam es zu Festnahmen. Nach dem Nachweis der Fälschung der DDR-Kommunalwahlen im Mai 1989 durch die Opposition begannen Nichtwählerdemonstrationen. Am 10. Juni fand das von Jochen Läßig und Katrin Hattenhauer organisierte Straßenmusikfestival „Freiheit mit Musik“ statt. Immer wieder reagierte der Staat mit brutalen Festnahmen und empfindlichen Ordnungsstrafen. Zum Abschluss des Sächsischen Kirchentages im Juli demonstrierten Müller, Christoph Motzer und Kathrin Walther mit einem Transparent in deutscher und chinesischer Aufschrift für „Demokratie“; Anlass war das von der SED gutgeheißene Massaker auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens vom 4. Juni 1989. Seit dem sogenannten „Beat-Aufstand“ Jugendlicher im Jahr 1965 war dies die größte Demonstration in Leipzig, da sich rund 1.000 Kirchentagsbesucher angeschlossen hatten. Im Angesicht westlicher Journalisten blieben Festnahmen aus. Dass das von den Berlinern Katrin Hegewald und Stephan Weiß gefertigte Transparent gegen Wahlbetrug außerhalb des Kirchentagsgeländes gezeigt wurde, wusste der Rechtsanwalt und inoffizielle Stasi-Mitarbeiter Wolfgang Schnur zu verhindern.

Stetiger Treffpunkt war das montägliche Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche. Unterstützung erhielten die Gruppen nur von wenigen Pfarrern wie Christoph Wonneberger, Klaus Kaden, Rolf-Michael Turek und dem Katholiken Hans-Friedrich Fischer. Als Superintendent Friedrich Magirius im Sommer 1988 die politisch motivierten Gruppen von der Gestaltung der Friedensgebete ausschloss, verteilte Müller Mundtücher mit der Aufschrift „Redeverbot“ und verlas zusammen mit Gesine Oltmanns, Thomas Rudolph, Jochen Läßig und anderen die Informationen auf dem Kirchvorplatz. Daraus entwickelte sich im Herbst 1988 für ein paar Wochen ein „Speakers Corner“. Im April 1989 durften sich die Gruppen wieder an den Friedensgebeten beteiligen, anschließende montägliche Demonstrationsversuche ab Mai endeten in Polizeikesseln.

Eine Woche nach der Demonstration zur Herbstmesse 1989 unter dem Motto „Für ein offenes Land mit freien Menschen“ reagierte der Staat mit massiven Verhaftungen (unter anderem von Katrin Hattenhauer und Carola Bornschlegel). Das löste eine Solidarisierungswelle auch in anderen Städten aus. Die in der Lukasgemeinde arbeitende Infogruppe um Thomas Rudolph, Kathrin Walther, Rainer Müller und Pfarrer Wonneberger organisierte Proteste und dokumentierte die brutalen Übergriffe des Staatsapparates bei den folgenden Montagsdemonstrationen, an denen immer mehr Menschen teilnahmen – am 25. September stieg die Teilnehmerzahl auf 8.000. Als es in Ost-Berlin und anderen Städten am 7. und 8. Oktober zu gewalttätigen Erniedrigungen festgenommener Demonstranten gekommen war und kommunistische Kampfgruppenkommandeure in der Presse am 9. Oktober in Leipzig mit der „chinesischen Lösung“ drohten, verfasste Müller mit anderen Leipzigern einen Aufruf, der von mehreren Oppositionsgruppen unterzeichnet wurde. Sie appellierten an die staatlichen Einsatzkräfte: „Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt! Wir sind ein Volk!“ Leipziger Oppositionelle und Theologiestudenten verteilten etwa 20.000 dieser Flugblätter. Erst Wochen später verband sich mit dem gleichlautenden Ruf die Forderung nach der Einheit Deutschlands.

1990 gehörte Rainer Müller dem DDR-Sprecherrat der Initiative Frieden und Menschenrechte an, die 1991 im Bündnis ‘90 aufging. 1993 trat er mit anderen Leipzigern aus diesem mit den bundesdeutschen Grünen fusionierenden Bündnis aus und dem Neuen Forum bei.

Heute lebt Müller als Historiker mit seiner Partnerin und vier Kindern in Leipzig, wo er nach 1990 Mittelalterliche und Neuzeitliche Geschichte studiert hat. Er engagierte sich kommunal und landesweit für das Neue Forum, arbeitet bis heute in verschiedenen gesellschaftspolitischen Gruppen mit und leitet das IFM-Archiv Sachsen e. V., das die Geschichte des Widerstandes gegen die SED-Diktatur erforscht.


Gerold Hildebrand
Letzte Aktualisierung: 08/16

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.