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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Schilling, Walter

* 1930




Walter Schilling wurde am 28. Februar 1930 in Sonneberg im Süden Thüringens als Sohn eines Pfarrers geboren und wuchs im benachbarten Oberlind auf. Seine Eltern gehörten im Nationalsozialismus der Bekennenden Kirche an, weshalb sein Vater erst nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur 1945 Superintendent werden konnte. Bestand Walter Schillings Jugendtraum noch darin, Jagdflieger zu werden, entschloss er sich mit 17 Jahren, Pfarrer zu werden.

In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. in der DDR durfte Schilling zunächst nicht studieren und fand beim evangelischen Villigster Studienwerk eine Ausbildungsstätte. Hier erhielten Werkstudenten eine universale Bildung mit engem Bezug zur Arbeitswelt. Künftige Eliten sollten nicht wieder fern der Realität heranwachsen. Schilling arbeitete als Landwirtschaftsgehilfe in Westfalen und Bergarbeiter im Ruhrgebiet, was für seinen späteren Ansatz einer sozialen und praktischen Theologie prägend war. 1950–55 studierte er Theologie in Münster, Heidelberg und Jena und wirkte anschließend bis zu seiner Pensionierung als Gemeindepfarrer in Braunsdorf-Dittrichshütte in der Nähe von Saalfeld in Thüringen.

Seine Gemeinde wuchs bald über die kleinen 100-Seelen-Dörfer hinaus. Das hing mit dem offenen Jugendrüstzeitheim zusammen, das Schilling als Kreisjugendpfarrer ab 1959 mit seiner Frau Eva und der Jungen Gemeinde Rudolstadt ausbaute. Die vormaligen Stallgebäude am Braunsdorfer Pfarrhaus wurden zu einem Pilgerort unangepasster Jugendlicher aus allen Regionen der DDR. Ab 1968 fand hier die in der DDR proletarischer als in anderen Ländern geprägte Hippiebewegung offene Pforten. Studenten waren selten darunter, da unangepasste Jugendliche von der SED als „bildungsunwert“ ausgesondert wurden. Der Kreis der „Jünger der Offenen Arbeit“ entstand, ganz biblisch, aus den Ausgegrenzten.

Zuerst kamen Rudolstädter und Saalfelder Jugendliche, die einen Raum zum Hören ihrer Musik suchten, ohne dass gleich die Polizei einschritt. Brutale Übergriffe auf Langhaarige und deren gesellschaftliche Stigmatisierung gehörten in den 60er Jahren zum realsozialistischen Alltag. Solche Erfahrungen mit dem von den Jugendlichen als faschistoid empfundenen Polizeistaat politisierten zunehmend. Nach Braunsdorf konnte jeder kommen, egal mit welchem Outfit, und fand dort einen freien Artikulations- und Kommunikationsort, eine Insel im „roten Meer“, die in der von der SED normierten Welt Freiraum zur Selbstentfaltung bot. Schilling, selbst ein Jazz- und Bluesliebhaber mit langen Haaren, der starken Kaffee und starke Zigaretten liebte, lehnte Bekenntniszwang und Messianismus ab. Deshalb besuchten auch die atheistisch geprägten Jugendlichen seine Gottesdienste in der alten Dorfkirche, bei denen er praktische Erfahrungen aus dem Lebensumfeld der Jugendlichen mit Bibelworten zu verknüpfen wusste. In den Nächten am Kamin wurden bei Watzdorfer Bier über Zukunftsvisionen debattiert.

Zum gemeinsam gestalteten „Gottesdienst – mal anders“ im Herbst 1969 in Rudolstadt kamen 500 Besucher. Nachgespielte Musiktitel wie „I'm free“ oder „Paint it black“ trafen das Lebensgefühl der „Beat Generation“ und mussten, um die Zensur zu umgehen, als Spiritual oder Traditional ausgegeben werden. Verbotene Bands wie die Gruppe Medianas spielten in der Kirche. Schon der zweite Versuch in Saalfeld wurde jedoch behördlich untersagt. Das Wichtigste waren Authentizität, Selbstgestaltung und die gemeinsam durchlebten Konflikte. Schilling übersetzte das in der DDR missbrauchte Wort Solidarität mit „ganz dicht beieinander sein“, bei der Personalität eine Voraussetzung darstelle. Der Freiraum für Muße als menschlichem Grundbedürfnis und Entfaltungsbedingung von Personalität war eine der Stärken der Offenen Arbeit.

Statt paternalistisch Kirche „für“ andere zu sein, sollte ein „Miteinander“ möglich gemacht werden, was sich vom Ansatz traditioneller Sozialdiakonie unterschied und von Kirchenleitungen und Gemeinden beargwöhnt wurde. Diese neue Jugendarbeit, zunächst in Zella-Mehlis (Jürgen Hauskeller), Leipzig (Claus-Jürgen Wizisla), Jena (Uwe Koch, Thomas Auerbach) und Dresden (Frieder Burkhardt, Christoph Wonneberger) praktiziert, wurde ab 1970 als „Offene Arbeit“ bezeichnet. Ab 1971 fanden überregionale Arbeitstreffen statt, an denen sich nicht nur Kirchenangestellte, sondern auch Jugendliche beteiligten, die Verantwortung übernehmen wollten. Ziel war ein neues Gemeindemodell. Über Tramperkreise erfolgte eine Vernetzung quer durch die Republik. Junge Gemeinden in Großstädten wie Erfurt, Halle und Ost-Berlin erhielten ein neues Profil, wurden zu Umschlagplätzen subversiver Ideen. Gemeinsames ganzheitliches Leben, vorurteilsfreies einander Annehmen und hierarchiefreies Miteinander wurden zum hehren Selbstverständnis. Spaß und Spontaneität sollten dabei nicht zu kurz kommen.

Aus einem von Schilling geprägten Theologieverständnis der Nachfolge Jesu entwickelte sich in einem Prozess des Miteinanders eine Befähigung zum gemeinsamen politischen Handeln. 1973 hatte Schilling einen Armeedeserteur auf dem kirchlichen Gelände versteckt, obwohl das Militärlager der Nationalen Volksarmee (NVA) Dittrichshütte nur ein paar Steinwürfe entfernt lag. Immer wieder stand er Armeedienstverweigerern bei. Ab 1973 setzte als Nachwirkung des *Prager Frühlings eine stärkere Politisierung ein, die 1976 mit den Protesten gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann in der Jungen Gemeinde Jena einen ersten Höhepunkt fand, an denen sich Schilling beteiligte.

Thematische Werkstätten, zunächst als neue selbstgestaltete Form von Gottesdiensten und Kulturersatz, fanden bald in verschiedenen Städten im Süden der DDR statt. Ende der 70er Jahre organisierten Schilling und Pfarrer Uwe Koch mit Jugendlichen der Region Großveranstaltungen in Rudolstadt, zu denen 1.000–2.000 Besucher kamen und die zu Vorläufern der Berliner Bluesmessen von Rainer Eppelmann wurden: „JUNE 78“ zum Thema Apartheid/Ausgrenzung mit dem Motto „Trau Dir selbst und dem anderen etwas zu“ und „JUNE 79“ in Bezug zum Uno-Jahr des Kindes. Im Jahr darauf folgte das staatliche Verbot und im Oktober 1980 die endgültige behördliche Schließung des Braunsdorfer Heims, nachdem dies bereits 1974 versucht und Schilling auf staatlichen Druck hin als Heimleiter abgesetzt worden war. Nun lieferten bauliche Mängel den Vorwand. Bedingt auch durch die DDR-Mangelwirtschaft konnte das Heim erst nach dem Ende der DDR modernisiert werden.

Vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) wurde Schilling schon seit den 50er Jahren als Nichtwähler überwacht. Als er sich 1963 in die Jugendpolitik einzumischen begann und neue Gesetze kritisierte, tauchten Stasi-Offiziere bei ihm auf. Als sie seine kritische Distanz zur SED-Politik feststellten, wurde er in verschiedenen Operativen Vorgängen (OV) „bearbeitet“, deren Bezeichnungen OV „Reaktionär“, OV „Plakat“ und OV „Spinne“ lauteten und während der Friedlichen Revolution 1989 zum Teil eilig von MfS-Angehörigen vernichtet wurden. Zersetzungsmaßnahmen zielten vor allem auf Schillings überregionale Tätigkeit, hier wurden auch doppelzüngige Amtsbrüder in der Kirchenleitung als inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit tätig. Fünf der neun Oberkirchenräte arbeiteten mit dem MfS zusammen. 1984 fand Walter Schilling eine Abhörwanze in seiner Pfarrwohnung.

Beargwöhnt wurden vor allem Schillings vielfältige Kontakte. Am meisten dürfte die Stasi-Mitarbeiter jedoch geärgert haben, dass Schilling ihre Konspiration vereitelte. Schon 1959 hatte er begonnen, Jugendliche vor Anwerbungen durch das MfS zu warnen und einzelne vor der Rekrutierung als Spitzel zu bewahren. Immer wieder sprach er offen über das tabuisierte und angstbesetzte Thema Staatssicherheit und hielt darüber ab 1986 angekündigte Vorträge in Thüringer Jungen Gemeinden.

Walter Schilling beteiligte sich nach der Heimschließung verstärkt an überregionalen Aktivitäten. So stellte er 1981 mit anderen aus der Offenen Arbeit eine 60-seitige Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen zusammen, die die Kirchenleitung mit der bitteren Realität des staatlichen Umgangs mit kritischen Jugendlichen konfrontierte. Matthias Domaschk aus Jena war in der Geraer Stasi-Untersuchungshaftanstalt ums Leben gekommen, zeitgleich hatte in Berlin ein brutaler Polizeiüberfall auf die Wohnungseinweihungsfeier von Schillings Tochter Kathrin stattgefunden.

1982 gründete Schilling gemeinsam mit Amtskollegen den Altendorfer Friedenskreis, nahm an Treffen des Netzwerks „Frieden konkret“ und von Thüringer Basisgruppen teil. 1986 trug er die Parteitagseingabe der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM) mit. Im gleichen Jahr konnte noch einmal eine Werkstatt in Rudolstadt stattfinden. 1987 beteiligte er sich federführend und als Verfasser diverser Grundsatzpapiere am „Kirchentag von Unten“, den themenbezogene Basisgruppen gemeinsam mit der Offenen Arbeit gestalteten, um gegen die Kirchenleitung zu protestieren, die sich beim Staat mit der Aussetzung der Friedenswerkstatt lieb Kind machen wollte. Für die in Folge entstehende „Kirche von Unten“ (KvU), die neben Gesellschaftskritik einem kirchenreformatorischen Ansatz folgte, wurde er von Juni 1989 bis Juni 1990 in Berlin der Pfarrer des Vertrauens. Landesweit fand sich kein anderer Pastor, der dem basisdemokratischen, staats- und autoritätsfeindlichen Selbstverständnis der KvU entsprach.

In den bewegten Tagen um den 7. Oktober 1989 nahm Schilling an der Mahnwache vor der Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer Berg teil und informierte vom dortigen Kontakttelefon aus andere DDR-Regionen über die Polizeiübergriffe. Am 8. Oktober wurde er selbst festgenommen und in die Untersuchungshaftanstalt Berlin-Rummelsburg gebracht. Anschließend beteiligte er sich am Zusammentragen der Gedächtnisprotokolle, die vom Stadtjugendpfarramt unter dem Titel „Ich zeige an“ veröffentlicht wurden. Als der geforderte unabhängige Untersuchungsausschuss zu den Polizeiübergriffen eingesetzt wurde, arbeitete er zunächst mit, verließ diesen aber wieder, da ihm auch Verantwortliche für die Übergriffe angehörten. Der intendierte politische Eklat blieb allerdings aus: Einen Tag zuvor war die Mauer gestürmt worden.

Nach dem Ende der DDR 1990 widmete sich Schilling verstärkt der Vergangenheitsklärung mit dem Schwerpunkt der Verstrickung der evangelisch-lutherischen Kirche in Thüringen. 1995 ging er als Pfarrer in den Ruhestand. Er lebte als Vater von vier erwachsenen Kindern anschließend mit seiner Frau Eva in Dittrichshütte. Für sein Engagement wurde er mit dem Menschenrechtspreis der Stadt Weimar gewürdigt.

Walter Schilling starb 2013 in Saalfeld.


Gerold Hildebrand
Letzte Aktualisierung: 08/16

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.