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In der Kategorie BioLex sind drei wichtige Lexika mit über 5500 Biografien von überzeugten Kommunistinnen und Kommunisten, Renegatinnen und Dissidenten im Volltext recherchierbar.

 

Das Handbuch „Deutsche Kommunisten. Biographisches Handbuch 1918 bis 1945“ wird von Andreas Herbst und Hermann Weber in der 8. aktualisierten Ausgabe herausgegeben. Auf breiter Quellenbasis werden die Schicksale deutscher Kommunisten knapp geschildert, von denen etwa ein Drittel während der NS-Diktatur und durch den Stalinistischen Terror gewaltsam ums Leben kam.

Kurzbiografien zu Personen des politischen Lebens in der DDR stellt das von Helmut Müller-Enbergs, Jan Wielgohs, Dieter Hoffmann, Andreas Herbst, Ingrid Kirschey-Feix herausgegebene Lexikon ostdeutscher Biographien „Wer war wer in der DDR?“ Ch. Links Verlag, 5. Aufl. 2010 bereit.

Zudem ist das Online-Lexikon www.dissdenten.eu ebenfalls auf unserer Seite aufrufbar. Die über 700 Biografien mit umfangreichen Informationen zu Oppositionellen, Bürgerrechtlern und  Dissidenten aus vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas werden laufend erweitert.

 

Wer war wer in der DDR?

Sinjawski, Andrei

* 1925 ✝ 1997




Andrei Sinjawski wurde 1925 in Moskau geboren. Sein Vater war Berufsrevolutionär, der vor 1918 den Sozialrevolutionären angehört hatte. 1943–45 diente Sinjawski in der Armee. Nach seiner Entlassung studierte und promovierte er an der Philologischen Fakultät der Moskauer Universität.

Zwischen Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre versuchte das Ministerium für Staatssicherheit, ihn als „Agent Provocateur“ gegen die Französin Hélène Pelletier, eine Kommilitonin aus seinem Studienjahr, einzusetzen. Nachdem er sie über die Absichten des Geheimdienstes in Kenntnis gesetzt hatte, gelang es ihnen gemeinsam, die Pläne der Staatssicherheit durch ein Ablenkungsmanöver zu vereiteln. Einige Jahre später half Hélène Pelletier Andrei Sinjawski dabei, seine in der UdSSR verbotenen Werke in den Westen zu schmuggeln. Diese Begebenheit bildet die Grundlage eines Kapitels seines Romans „Gute Nacht“ (Spokojnoj noči) von 1984.

1952 verteidigte Sinjawski seine Doktorarbeit und arbeitete ab 1953 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Gorki-Institut für Literatur der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Er veröffentlichte Arbeiten über Wladimir Majakowski, Maxim Gorki, Eduard Bagrizki sowie über die sowjetische Literatur in der Zeit des Bürgerkrieges und des Zweiten Weltkriegs. 1957/58 hielt er an der Philologischen Fakultät der Moskauer Universität ein Seminar über die russische Poesie zu Anfang des 20. Jahrhunderts. 1958–65 unterrichtete er russische Literatur an der Bildungseinrichtung des Moskauer Kunsttheaters (MChAT). 1960 gab er gemeinsam mit Igor Golomstock das Buch „Picasso“ heraus, die erste sowjetische Monografie über diesen in der UdSSR offiziell nicht anerkannten Maler. Im Dezember 1960 wurde Sinjawski Mitglied des Schriftstellerverbands der UdSSR und auch als Kritiker der literarischen Monatszeitschrift „Novyj Mir“ bekannt. 1965 erschien erstmals ein Band mit Gedichten von Boris Pasternak in der Serie „Bibliothek des Poeten“, der von Sinjawski mit einem ausführlichen Vorwort versehen wurde. Nach seiner Verhaftung wurde Sinjawskis Vorwort aus den Neuauflagen des Buches entfernt.

1954 begann Sinjawski, sich dem literarischen Schreiben zu widmen. Da seine Geschichten, Erzählungen und Essays aufgrund ihres Inhalts und Stils nicht in der UdSSR erscheinen konnten, veröffentlichte er sie ab 1956 im Ausland. In seinem programmatischen Aufsatz über Philosophie und Ästhetik mit dem Titel „Was ist sozialistischer Realismus?“ (Čto takoe socjalističeskij realizm?), der 1959 anonym in Paris erschienen war, analysierte Sinjawski den tragischen Widerspruch zwischen den hohen Idealen der kommunistischen Theorie und den Mitteln, die zu ihrer Verwirklichung eingesetzt wurden: „Damit die Gefängnisse für immer verschwinden, haben wir neue Gefängnisse gebaut. Damit die Grenzen zwischen den Staaten aufgehoben werden, haben wir uns mit einer chinesischen Mauer umgeben. Damit Arbeit zukünftig Erholung und Freude bedeutet, haben wir die Zwangsarbeit eingeführt. Damit kein weiterer Tropfen Blut vergossen wird, haben wir gemordet, gemordet und gemordet. […] Die erreichten Ziele sind niemals mit den anfänglich gesetzten Zielen identisch. Die Mittel, die man einsetzt, um ein Ziel zu erreichen, verändern dessen Wesen so stark, dass man es oft kaum noch erkennt. Die Scheiterhaufen der Inquisitionen haben geholfen, die Botschaft des Evangeliums zu verkünden, aber was ist anschließend von dieser Botschaft noch übrig geblieben?“

Den sozialistischen Realismus, der ab 1934 in der Sowjetunion die einzig gültige Kunstrichtung war, interpretierte Sinjawski als „teleologische Kunst“ und als „neuen Klassizismus“. Er erkannte dessen ästhetischen Wert in seiner reinen Form zwar an, betonte jedoch gleichzeitig dessen unauflösbare Verbindung mit der sozialen und kulturellen Realität im Totalitarismus. Sinjawski kritisierte scharf, dass viele sowjetische Schriftsteller den sozialistischen Realismus mit Stilelementen des kritischen russischen Realismus des 19. Jahrhunderts vermischten. Als Alternative stellte er diesem Eklektizismus den von ihm selbst entwickelten „fantastischen Realismus“ entgegen, der auf adäquate Weise im Stande sei, das Absurde der totalitären Wirklichkeit abzubilden.

Für die Realisierung dieses künstlerischen Programmes schuf er die Figur „Abram Terz“, dessen Namen er später nicht nur als Pseudonym verwendete, sondern der auch zu seinem literarischen Alter Ego wurde. Die fantastischen Geschichten und Erzählungen von Abram Terz erschienen ab 1959 im Ausland und waren lange vor dem Bekanntwerden und der Verhaftung von Sinjawski ein großer Erfolg. Sie wurden in die wichtigsten europäischen und asiatischen Sprachen übersetzt. Viele Jahre suchte der KGB angestrengt den Autor dieser Erzählungen und setzte für die Suche auch seinen Auslandsgeheimdienst ein.

Am 8. September 1965 wurde Andrei Sinjawski verhaftet. Am 5. Januar 1966 entschied das Sekretariat des ZK des KPdSU auf Antrag des KGB und nach Abstimmung mit der Leitung des Schriftstellerverbandes, Sinjawski zusammen mit seinem Freund Juli Daniel vor Gericht zu stellen. Daniel war zeitgleich wegen ähnlicher „Verbrechen“ verhaftetet worden, nachdem er unter dem Pseudonym „Nikolai Arschak“ veröffentlicht hatte. Bereits im Vorfeld wurde festgelegt, dass am Ende des *Prozesses gegen Andrei Sinjawski und Juli Daniel eine Haftstrafe stehen sollte. Die sowjetische Presse startete eine Hetzkampagne gegen die beiden „Abtrünnigen“ und „literarischen Umstürzler“, die ihren Höhepunkt während des Gerichtsprozesses erreichte und noch einige Wochen darüber hinaus andauerte.

Sinjawskis und Daniels Fall wurde vor dem Obersten Gericht der RSFSR vom 10. bis 14. Februar 1966 verhandelt. Während des ganzen Prozesses und auch in seinem Abschlussplädoyer verweigerte Sinjawski ein Schuldeingeständnis und berief sich als Schriftsteller auf sein Recht auf künstlerische Freiheit. Das Gericht befand, dass in den beiden Erzählungen „Das Verfahren läuft“ (Sud idët) und „Ljubimov“ sowie in Teilen des Aufsatzes „Was ist sozialistischer Realismus?“ eine Straftat laut Paragraf 1 des *Artikels 70 Strafgesetzbuch der RSFSR vorliege, und verurteilte Sinjawski zu sieben Jahren Haft.

Der *Prozess gegen Andrei Sinjawski und Juli Daniel war 1965/66 ein aufsehenerregendes Ereignis, das in der Weltöffentlichkeit und auch unter prokommunistisch eingestellten westlichen Intellektuellen starke Beachtung fand. In der UdSSR löste er eine präzedenzlose Welle individueller und kollektiver Proteste aus, darunter die *Glasnost-Kundgebung am 5. Dezember 1965 auf dem Puschkin-Platz in Moskau, die viele Historiker als erste öffentliche Kundgebung für die Menschenrechte in der Sowjetunion und als Beginn der Menschenrechtsbewegung bezeichnen.



Im Unterschied zu vergleichbaren Protesten, die ein Jahr früher durch den Prozess gegen Joseph Brodsky ausgelöst worden waren, zeichneten sich die Proteste von 1965/66 durch ihre Intensität und ihre öffentliche Wahrnehmbarkeit aus: Briefe und Reden, in denen Sinjawski und Daniel verteidigt und die von ihren Verfassern oft ausdrücklich als „öffentlich“ bezeichnet wurden, zirkulierten im Samisdat. Auch die Aussagen der beiden Angeklagten vor Gericht wurden im Samisdat verbreitet. Notizen aus dem Gerichtssaal, die von den Ehefrauen der beiden Angeklagten angefertigt worden waren, Reaktionen der sowjetischen und der Weltpresse, Protestbriefe und andere Veröffentlichungen, die mit dem Prozess in Zusammenhang standen, dienten als Material für ein 1966 von Alexander Ginsburg herausgegebenes „Weißbuch“, das den Beginn einer Serie ähnlicher Publikationen über politische Prozesse markierte. Die darauf folgenden staatlichen Repressionen lösten eine erneute Protestwelle aus.

Seine Strafe verbüßte Andrei Sinjawski in den *mordwinischen Lagern. Dort schrieb er die beiden Bände „Promenaden mit Puschkin“ (Progulki s Puškinem) und „Eine Stimme im Chor“ (Golos iz chora) und begann ein drittes Buch mit dem Titel „Im Schatten Gogols“ (V čene Gogolja). Diese Bücher, für die Sinjawski wieder die literarische Maske des Abram Terz verwendete, sind keine belletristischen Werke, sondern Essays beziehungsweise literaturwissenschaftliche Aufsätze. Am Ende des sechsten Haftjahres zeigten die Bemühungen seiner Frau Maria Rosanowa und des bereits zuvor entlassenen Juli Daniels, die sich für die Begnadigung von Sinjawski bei den Staatsbehörden eingesetzt hatten, Wirkung. Per Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der RSFSR vom 20. Mai 1971 wurde Sinjawski von der weiteren Strafverbüßung befreit und am 8. Juni 1971, 15 Monate vor Ablauf der Haftstrafe, aus dem Lager entlassen.

Die nächsten zwei Jahre lebte Sinjawski in Moskau und setzte das Schreiben fort. Da er weder legal noch wie früher illegal veröffentlichen konnte, entschied er sich zur Emigration. Am 10. September 1973 reiste Sinjawski für immer nach Frankreich aus. Dort lehrte er russische Literatur an der Pariser Sorbonne. 1974/75 war er Redaktionsmitglied der vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift *„Kontinent“, die er später aufgrund eines schweren politisch-ideologischen Konflikts mit dem Chefredakteur Wladimir Maximow verließ. Unterdessen veröffentlichte er unter den Namen Sinjawski und Terz in der Zeitschrift *„Sintaksis“ (Paris), die von Maria Rosanowa gegründet und herausgegeben wurde. Er führte eine lange polemische Auseinandersetzung mit den Vertretern der nationalpatriotischen Strömung der russischen Emigration, vor allem mit Alexander Solschenizyn: „Unter den Umständen des sowjetischen Despotismus gehört es sich für einen russischen Intellektuellen, ein Liberaler und Demokrat zu sein und nicht irgendeine andere Form eines neuen Despotismus vorzuschlagen. […] Unsere Berufung ist, auf der Seite der Freiheit zu stehen.“

In der Emigration gab Sinjawski eine Reihe neuer Bücher heraus, unter denen der autobiografische Roman „Gute Nacht“ von 1984 die größte Aufmerksamkeit erlangte. Darin beschrieb Sinjawski die Entstehung seines literarischen Alter Egos Abram Terz. In der UdSSR wurden seine Werke erstmals während der Perestroika 1989 in der Anthologie „Der Preis der Metapher oder Verbrechen und Strafe von Sinjawski und Daniel“ (Cena metafory ili prestuplenie i nakazanie Sinjawskogo i Daniela) veröffentlicht. Darin enthalten waren auch Texte, die zwischen 1959 und 1966 im Westen erschienen waren, sowie Sinjawskis Schlussplädoyer in seinem Strafprozess.

Sinjawski war der Meinung, dass ein Schriftsteller in der Gesellschaft die Rolle eines „Abtrünnigen“, eines „Verbrechers“ – das Pseudonym Abram Terz war aus einer Räuberlegende entliehen – und eines „Dissidenten“ übernehmen müsse. In diesem Sinne betrachtete er sich als Dissident, nicht nur gegenüber dem sowjetischen Regime, sondern auch gegenüber dem Milieu der Emigranten und den dort verbreiteten ideologischen und weltanschaulichen Tabus. Fast jedes neue Buch von Sinjawski rief einen entsprechenden Entrüstungssturm hervor, zunächst in der Emigration und ab 1989 auch in der Sowjetunion, die er mehrfach bereiste. Nach der Verfassungskrise im Herbst 1993 zählte er zu den erbittertsten Kritikern von Russland unter Präsident Boris Jelzin.

Andrei Sinjawski starb 1997 in Fontenay-aux-Roses bei Paris.



Dmitri Subarew
Aus dem Polnischen von Tim Bohse
Letzte Aktualisierung: 03/16

Information

Die Sonderzeichen * und # erscheinen lediglich aus technischen Gründen im Text. Auf der Ursprungs-Webseite dissidenten.eu finden sie weiterführende Links sowie die vollständige Version der Biografien mit Glossarerklärungen, Chroniken und ausführlichen Darstellungen der Oppositionsgeschichten aller Länder.