JHK 2012

»New York in der Steppe« - Die Sesshaftmachung der kasachischen Nomaden

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung | Seite 47-62 | Aufbau Verlag

Autor/in: Robert Kindler

Im Sozialismus war für Nomaden kein Platz vorgesehen. Deshalb mussten die nomadisierenden Viehhirten Kasachstans1 sesshaft werden. Wer in festen Gebäuden lebte und nicht länger in Jurten hauste, der werde aus den »halbfeudalen« Ausbeutungsverhältnissen der kasachischen Klans ausbrechen2 und zu einem Teil der sowjetischen Moderne, erklärten die Befürworter der Sesshaftmachung. Doch als solchen Plänen während der Stalin’schen »Revolution von oben« zu Beginn der Dreißigerjahre Taten folgten, wurde deutlich, dass sich hinter derartigen Fortschrittsverheißungen weder Emanzipation noch Partizipation, sondern bestenfalls die graue Realität trister Kolchosen verbarg. Unzählige Menschen mussten mit ihrem Leben für das bezahlen, was die Kommunisten so wortreich beschworen hatten.

Die Kampagne zur Sesshaftmachung der kasachischen Nomaden nahm selbst in der an Katastrophen nicht armen sowjetischen Geschichte eine besondere Stellung ein; sowohl im Hinblick auf ihre utopische Dimension – Kultur und Lebensweise einer ganzen Ethnie sollten innerhalb kürzester Zeit radikal revolutioniert werden –, als auch hinsichtlich ihrer verheerenden Konsequenzen: Die Sesshaftmachung und die mit ihr untrennbar verbundene Kollektivierung der Landwirtschaft verursachten eine dramatische Hungersnot. Mehr als eineinhalb Millionen Menschen, circa ein Drittel der gesamten kasachischen Bevölkerung, kamen zwischen 1931 und 1934 ums Leben, Hunderttausende wurden zu Flüchtlingen, und es entstanden immense wirtschaftliche Verluste.3

Gemessen an den ehrgeizigen Plänen und den bescheidenen Resultaten war das Projekt ein Fehlschlag. Doch es wäre zu einfach, die Sesshaftmachung nur als gescheiterte Utopie zu beschreiben; also eine neue Version jener oft erzählten Geschichte zu verfassen, in der anspruchsvolle Projekte an der Unfähigkeit handelnder Personen, den Widerständen der Betroffenen oder den Unzulänglichkeiten des sowjetischen Systems zerbrachen. Nur wenn man die Verlautbarungen der Kommunisten ernst nimmt, es habe sich bei der Sesshaftmachung um ein ökonomisches und soziales Modernisierungsprojekt gehandelt, wird man auch ihr »Scheitern« konstatieren müssen.

Für die Bolschewiki bestand der Sinn der Ansiedlungskampagne jedoch nicht primär darin, Häuser zu errichten oder Steppenböden in Ackerland zu verwandeln. Ihnen ging es darum, sowohl die Ressourcen als auch die Bevölkerung der Steppe zu kontrollieren. Beides, so glaubten sie, ließe sich nur dann verwirklichen, wenn Menschen und Tiere nicht länger nomadisierten, sondern an angebbaren Orten sesshaft gemacht werden konnten. Doch dieses Ziel zu erreichen, bedeutete zugleich, die kasachische Gesellschaft in ihren Grundfesten zu erschüttern. Darin bestand die eigentliche Absicht der Kommunisten. Aus ihrer Perspektive war es eine rationale und effiziente Herrschaftsstrategie, permanent Konflikte zu schüren und eskalieren zu lassen. Für die Gesellschaft des Stalinismus durfte es keine Atempause geben. In der Krise, davon waren Stalin und seine Getreuen überzeugt, mussten sich Freunde und Feinde zu erkennen geben. Indem sie die gesamte Gesellschaft – oder zumindest einige ihrer Teile – in Bewegung versetzten, vergewisserten sie sich nicht nur ein ums andere Mal ihrer Macht, sondern zwangen die Menschen auch dazu, Entscheidungen zu treffen und sich zu positionieren. Deshalb suchten sie bei Auseinandersetzungen um die Zukunft der Steppe stets die Konfrontation. Und die Resultate schienen ihnen recht zu geben: Als die Hungersnot vorüber war, stellte niemand mehr den hegemonialen Anspruch der Sowjetmacht infrage. Zugleich zeigte sich, dass der Erfolg der Sowjetisierung paradoxerweise wesentlich darauf beruhte, dass Menschen die Vorgaben des Systems für ihre eigenen Zwecke nutzten oder unterliefen.

Der erste Abschnitt dieses Textes beschäftigt sich mit den Gründen, die aus Sicht der Genossen für die Ansiedlung sprachen. Dabei spielten kulturelle Argumente ebenso eine Rolle wie ökonomische und vor allem aber herrschaftstechnische Aspekte. Der zweite Teil zeigt, was Ansiedlung von Nomaden unter den Bedingungen der kasachischen Steppe konkret bedeutete: Die Nomaden wurden ihrer Tiere (und damit zugleich auch ihrer Existenzgrundlagen) beraubt und danach weitgehend ihrem Schicksal überlassen. Neben den Exzessen der Kollektivierungskampagne war dies einer der wesentlichen Gründe für den Ausbruch der verheerenden Hungersnot in den Jahren 1931 bis 1934. Im dritten Abschnitt geht es um die sozialen und machtpolitischen Dynamiken dieser Hungerjahre. Das Überleben des Einzelnen hing nun wesentlich von seiner Fähigkeit ab, sich in unterschiedliche Versorgungsnetze zu integrieren. Dies war eine wichtige Ursache für die endgültige Durchsetzung des sowjetischen Kolchossystems in der Steppe. Daran knüpft der letzte Teil an, in dem gezeigt wird, was aus der Perspektive der Bolschewiki »positiv« an der Hungersnot war.

Eine Kultur ohne Zukunft

Die Bolschewiki waren nicht die ersten, die in der Sesshaftmachung der kasachischen Nomaden die Lösung für eine ganze Reihe von Problemen sahen.4 Doch ihre Vision ging über die Überlegungen zarischer Kolonialbeamter weit hinaus.5 Die hohe Mobilität der Nomaden stellte die Vertreter des Staates vor immense Herausforderungen: Menschen, die ständig ihren Aufenthaltsort wechselten, ließen sich weder kontrollieren, noch effizient mit Steuern belegen. Ja, sie konnten nicht einmal daran gehindert werden, die Staatsgrenzen nach Belieben zu passieren.6 Viele sowjetische Ökonomen sahen in der extensiven Landnutzung nomadischer Viehhirten ein Hindernis für die weitere Entwicklung der Region. Zugleich monierten sie die geringen Erträge ihrer Viehwirtschaft.7 Das kommunistische Unbehagen gegenüber den Nomaden brachte ein unbekannter Sowjetfunktionär auf den Punkt, der darauf hinwies, dass es »in unseren Beziehungen mit den Bauern […] möglich ist, viel zu nehmen und wenig zu geben, aber mit den Nomaden ist dies nicht möglich – sie ziehen einfach weg.«8

Die Lösung für all diese Probleme schien in der Sesshaftmachung der Nomaden zu liegen. Der Erste Sekretär der kasachischen Parteiorganisation, Filipp Gološčekin, fasste diese Utopie so zusammen: »Der sozialistische Aul, das ist ein sesshafter Aul mit siedelnder Bevölkerung, mit Häusern europäischen Typs, Wirtschaftsgebäuden für die Vergemeinschaftung des landwirtschaftlichen Geräts und des Viehs.«9 Die Bewohner dieser schönen neuen Welt sollten jedoch nicht nur in ökonomischer Hinsicht Neuland betreten, sondern vor allem aus dem traditionellen System der Klans ausbrechen. Aus der Perspektive der Bolschewiki war dies eine Notwendigkeit. Nur so konnten »rückständige« Nomaden zu sowjetischen Kasachen werden. In den Kasachen, die mit ihren Viehherden durch die Steppe zogen, sahen sie Angehörige einer eigentlich längst vergangenen Epoche, die in »halbfeudalen« Ausbeutungsverhältnissen verharrten und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen und fehlender Bildung litten.10

Unter solchen Umständen konnten die Kommunisten nur wenig ausrichten. Seit dem Ende des Bürgerkriegs in der Steppe hatten sie immer wieder aufs Neue erfahren,11 wie gering die Sympathien waren, die ihnen von den Nomaden entgegengebracht wurden.12 In den Jurten konnte kaum jemand etwas mit den Reden von »Klassengegensätzen im Aul« anfangen. Denn die Gemeinschaften der Steppenbewohner basierten auf der Integration aller Individuen in die auf gemeinsamer genealogischer Abstammung beruhenden Klanstrukturen. Autorität besaßen hier jene Männer, die auf privilegierte Herkunft, Reichtum an Vieh oder überlegene Rechtskenntnisse verweisen konnten.13 Dass die Sowjetmacht in weiten Teilen der Steppe ohne Einfluss war, räumten selbst Spitzenfunktionäre wie Gološčekin unumwunden ein.14 Entscheidungen auf der lokalen Ebene konnten nur mit Zustimmung der traditionellen Eliten getroffen werden, Sowjets und Parteizellen existierten oft nur auf dem Papier, und viele Funktionsträger hatten allenfalls diffuse Vorstellungen von den Zielen und Absichten der Bolschewiki.15

Für diese Missstände machten die Genossen verschiedene Gründe verantwortlich, vor allem aber den ungebrochenen Einfluss der »bai«16 und die kulturelle »Rückständigkeit« der Nomaden. In den bai, denen sie einen ähnlich verderblichen Einfluss wie den »Kulaken« in russischen Dörfern zuschrieben, sahen die Bolschewiki ihre wichtigsten Gegner im Aul. Sie galt es zu bekämpfen, um die Sozialstrukturen der nomadischen Gesellschaft aufzubrechen. Die sowjetische Politik richtete sich deshalb von Anfang an gegen die bai und den Einfluss der Klans. Zu den dabei üblichen Praktiken gehörten repressive Maßnahmen, wie der Entzug des Wahlrechts, Enteignungen, Verhaftungen und Verbannungen.17

Die Steppe war nicht nur nicht sowjetisiert, sie war auch kein friedlicher Ort. Nach den Kasachen stellten Russen und Ukrainer, die als Siedlerkolonisten nach Zentralasien gekommen waren,18 den größten Teil der Gesamtbevölkerung.19 Die Dörfer dieser Bauern entstanden oft in den fruchtbarsten Gegenden und blockierten vielfach die Migrationsrouten der Nomaden. Immer wieder kam es zu Konflikten zwischen Zentralasiaten und Europäern, in denen es meist um die wichtigsten natürlichen Ressourcen der Region – fruchtbaren Boden und Wasser – ging. Im Jahr 1916 war die Situation eskaliert, als sich weite Teile der zentralasiatischen Bevölkerung an einem Aufstand gegen die russische Kolonialmacht beteiligt hatten.20 Auch nach dem Ende des Bürgerkriegs entspannte sich die Lage kaum; immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen zwischen europäischen Bauern und Kasachen, die sich auch durch wiederholte Interventionen Moskaus nicht beilegen ließen.21 Die Sesshaftmachung der Nomaden sollte nicht nur diese beständig schwelenden Konflikte lösen, sondern gleichzeitig Flächen für neue Bauernsiedler bereitstellen.22

Doch es gab auch Stimmen, die dem Ansiedlungsprojekt kritisch gegenüberstanden. Manche unter den kasachischen Bolschewiki waren der Ansicht, die Sesshaftmachung gefährde den kulturellen Fortbestand der »kasachischen Nation«.23 Vor allem aber trieb sie die nicht unbegründete Sorge um, die »freiwerdenden Flächen« würden alsbald von russischen Siedlern besetzt und die Kasachen so zur Minderheit im eigenen Land. Einige Nationalkommunisten wollten gar den Nachweis führen, dass der kasachische Aul eine protokommunistische Gesellschaft darstelle, weshalb jede Forcierung des Klassenkampfes überflüssig sei. Es genüge, den »evolutionären Prozess« abzuwarten.24

Aus ganz anderen Gründen wandten sich manche Agronomen und Ökonomen gegen die Sesshaftmachung: Sie wiesen darauf hin, dass der Nomadismus unter den Bedingungen der Steppe die vorteilhafteste Wirtschaftsweise sei. Es komme allein darauf an, die Viehhaltung effizienter zu machen und die Fleischproduktion zu steigern.25 Für eine darüber hinausgehende landwirtschaftliche Nutzung seien weite Teile des Landes ohne substanzielle Investitionen in Bewässerungssysteme kaum zu gebrauchen.26 Diese Experten machten sich keine Illusionen darüber, welche Konsequenzen eine radikale Ansiedlungspolitik nach sich ziehen würde. So ließ sich etwa einer 1926 erschienenen Schrift entnehmen, dass »die Vernichtung des nomadischen Wesens in Kasachstan nicht nur den Untergang der Viehhaltung in der Steppe und der kasachischen Wirtschaft bedeuten würde, sondern auch die Verwandlung der trockenen Steppen in menschenleere Wüsten«.27 Dies war eine ziemlich präzise Beschreibung dessen, was folgen sollte.

Sesshaftmachung durch Enteignung

Die Kampagne zur Sesshaftmachung der kasachischen Nomaden war Teil der umfassenden Attacke des sowjetischen »Staates gegen sein Volk«28 in den Jahren zwischen 1928 und 1933. Sie fiel nicht nur zeitlich mit der Zwangskollektivierung, den Beschaffungsmaßnahmen und den Repressionen gegen die bai und Kulaken zusammen, sondern Kollektivierung und Sesshaftmachung bedingten einander. Nicht umsonst sprachen die Genossen immer wieder von der »Sesshaftmachung auf Grundlage der vollständigen Kollektivierung«.29 Hinter dieser etwas umständlichen Bezeichnung verbarg sich der Versuch, eine maximale Ressourcenexpropriation bei gleichzeitiger Bevölkerungskonzentration zu erreichen.

Im Sommer 1930 entsandte das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee (VCIK) eine Kommission nach Kasachstan, um den Fortgang der seit Beginn des Jahres laufenden Sesshaftmachung zu untersuchen. Die Beobachtungen der Kommission waren ernüchternd und deckten sich mit zahlreichen anderen Berichten aus allen Teilen der Republik. Überall drohte das Projekt zu scheitern. Gründe für den Misserfolg gab es viele: Die Kasachen wehrten sich gegen die Ansiedlung; angeblich weil sie höhere Steuern fürchteten. Der Bau von Häusern und Wirtschaftsgebäuden kam nicht voran, weil es an Baumaterialien und technischem Sachverstand mangelte. Doch am problematischsten schien den Kommissionsmitgliedern etwas anderes zu sein: Immer wieder wiesen Landvermesser und lokale Funktionäre den Nomaden vollkommen ungeeignete Ansiedlungspunkte zu, an denen es weder fruchtbare Böden noch hinreichende Wasserquellen gab.30 Lokale Funktionäre zwangen die Nomaden in riesige, teilweise aus bis zu 500 Jurten bestehende Siedlungen, »vergesellschafteten« die Viehbestände, ließen die Tiere zu den Sammelplätzen der Beschaffungsorgane treiben und nötigten die Menschen, in die Kolchosen einzutreten.31 Um Planerfüllung zu simulieren, war diese Art der »Sesshaftmachung« hinreichend, doch für die Betroffenen erwies sie sich als Weg in ein Desaster: Die Mehrzahl dieser »Gigantensiedlungen« war innerhalb kürzester Zeit – und das ist buchstäblich zu verstehen – ausgestorben.32 Im Jahr 1934 urteilte eine Kommission aus Moskau über derartige Praktiken lakonisch, hier habe die Idee Form angenommen, »New York in den Bergen und Steppen zu errichten«.33

Dennoch ließen sich die Kommunisten auch durch das Scheitern der »Gigantomanie« nicht beirren. Sukzessive weiteten sie die Zahl der anzusiedelnden Haushalte immer mehr aus. Im Dezember 1931 wurde schließlich die »vollständige Sesshaftmachung aller nomadischen und halbnomadischen Haushalte« bis zum Ende des Jahres 1933 beschlossen.34 Ein Schreiben des Vorsitzenden des kasachischen Rates der Volkskommissare, Uraz Isaev, an Molotov vom Februar 1932 verdeutlichte die Dimensionen, um die es dabei ging: Gut 400 000 der insgesamt ungefähr 670 000 kasachischen Haushalte müssten innerhalb der nächsten zwei Jahre sesshaft werden. Die übrigen seien, so behauptete zumindest Isaev, bereits in der einen oder anderen Weise von entsprechenden Maßnahmen ergriffen worden.35 Seine Berechnungen zeigten, wie gleichgültig Menschen und Schicksale für Leute seines Schlages waren, wenn es um die Durchsetzung bedeutender Projekte ging: Nach Addition verschiedener Kontingente (und einem Rechenfehler) ermittelte er eine Zahl von 443 700 anzusiedelnden Haushalten, die er mit einem Federstrich auf 400 000 reduzierte.36 Die mehr als 40 000 »gekürzten« Familien tauchten nicht nur in den Planstatistiken nie wieder auf.

Tatsächlich interessierten sich die Genossen kaum dafür, wie Menschen unter solchen Bedingungen (über-)leben sollten. Dies galt sowohl für Kommunisten in leitenden Positionen als auch für die Funktionäre vor Ort. Ihre Aufmerksamkeit galt anderen Fragen. Sie alle wussten genau, dass sie in erster Linie an den von ihnen erzielten Lieferquoten für Vieh und Getreide sowie an Kollektivierungsraten gemessen wurden.37 Konkrete Erfolge bei der Sesshaftmachung waren demgegenüber von eher zweitrangiger Bedeutung. Deshalb hatten viele Nomaden bereits alles verloren, wenn die »Maßnahmen zur Sesshaftmachung« begannen.

Den unmittelbaren Anlass für die Verelendung der kasachischen Bevölkerung stellten die – Raubzügen gleichenden – Erfassungskampagnen dar.38 Die Kasachen wurden nicht nur ihrer Tiere beraubt, sondern in den meisten Regionen mussten sie überdies auch noch Getreide abliefern, welches sie oft weder besaßen noch anbauten. Die Folgen dieser Politik waren dramatisch: Viele Menschen sahen sich gezwungen, auch jenen Teil ihrer Herden zu verkaufen, der noch nicht erfasst worden war, um entweder den Erlös abzuführen oder um damit Getreide zu erwerben, das sie an die Erfassungsstellen lieferten.39 Da Schafe, Ziegen, Pferde, Kamele und Rinder nicht nur die Existenzgrundlage der meisten Kasachen darstellten, sondern ihre gesamte Kultur auf das Engste mit ihnen verknüpft war,40 bedeutete ihr Verlust eine existenzielle Bedrohung.

Beschlagnahmungen und Sesshaftmachung lösten unter den Kasachen erbitterten Widerstand aus. Viele Kasachen verkauften oder schlachteten ihr Vieh eher, als dass sie es den Beschaffungsbrigaden überließen.41 Andere versuchten, sich und ihre Herden in Sicherheit zu bringen. Hunderttausende Menschen flohen nach Sibirien, in andere zentralasiatische Republiken und nach China.42 In allen Regionen Kasachstans brachen bewaffnete Aufstände aus, an denen sich Zehntausende Menschen beteiligten. Zwischen 1929 und 1931 kontrollierten Rebellen ganze Landstriche. Erst als es den Einheiten von Roter Armee und Geheimdienst mit ihren überlegenen Machtmitteln gelang, die Nomaden von den Wasserstellen und Brunnen in die trockenen Steppengebiete abzudrängen, konnten sie die Aufstände schließlich niederschlagen.43

Dass sich die Betroffenen gegen die Attacken des Staates zur Wehr setzen würden, hatten die Bolschewiki einkalkuliert.44 Stalin selbst betonte immer wieder, dass es zu erbitterten Auseinandersetzungen mit dem »Kulakentum« kommen werde, bevor der Sieg der Kollektivierung feststehe.45 Als es so weit war, spielten die unterschiedlichen Formen des Widerstands den Kommunisten in die Hände. Jene, die sich gegen den permanent zunehmenden Druck zur Wehr setzten, ließen sich als »antisowjetische Elemente« identifizieren, die quantifiziert, isoliert und bekämpft werden konnten.46 Ihre Existenz bestätigte die Genossen in ihrer Wahrnehmung: Sie waren tatsächlich von »Feinden« umgeben, gegen die alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel eingesetzt werden mussten. Dass sich die Zahl der »Feinde« so nicht verringerte, sondern beständig vergrößerte, entsprach der Logik eines Systems, dessen Kern die permanente Zuspitzung und Eskalation gesellschaftlicher Prozesse war.47

Je länger diese Auseinandersetzungen anhielten und je stärker sie forciert wurden, desto mehr gerieten die Nomaden unter Druck. Dort, wo sie der Umsetzung anderer Projekte im Weg standen, mussten die verarmten und deshalb unproduktiven Menschen weichen. Als im Jahr 1930 mit dem Karlag der bald wichtigste Ableger des Gulag in Kasachstan gegründet wurde, machten sich die Behörden als Erstes daran, das Lagerterritorium von Nomadenstämmen zu säubern.48 Zur Urbarmachung der Steppe setzten die Kommunisten eher auf ihre verurteilten Feinde als auf die indigene Bevölkerung. Nicht nur hier wurden die Nomaden zu »überflüssigen Menschen«.49

Die Hungersnot als machtpolitisches und soziales Problem

Kollektivierung, Beschaffungskampagnen und Sesshaftmachung degradierten die Nomaden zu mittellosen Hungerflüchtlingen, die in Aulen und Dörfern, in Städten und an Bahnstationen um Nahrung betteln mussten.50 Aus allen Regionen der Republik berichteten die Behörden vom Hunger und der katastrophalen Versorgungslage, der Zunahme von Verzweiflungstaten und unablässig steigenden Todesraten.51 Insgesamt kamen zwischen 1930 und 1934 über eineinhalb Millionen Menschen ums Leben, und eine weitere Million floh aus den betroffenen Gebieten. Vielerorts geriet die Situation völlig außer Kontrolle.

Besonders eindrücklich lässt sich die verheerende Lage vielleicht mithilfe des folgenden Beispiels illustrieren: Im Februar 1933 erreichte Isaev ein Brief aus dem östlich des Aralsees gelegenen Kreis Karmakči, dessen Autor, ein gewisser Kunaščaev, hier offensichtlich als örtlicher Bevollmächtigter des Rates der Volkskommissare fungierte. Kunaščaev schrieb, dass der »Hungertod massenhaften Charakter annahm. [...] Am 15. [Februar, R.K.] gab ich persönlich dem Polizeichef den Auftrag, das Stadtgebiet zu durchsuchen, und er fand 30 Leichen. Am 16. fand er 11 Leichen. Im Kreiszentrum erwarten mich jeden Tag 200 ausgezehrte Menschen und bitten um Brot (insgesamt gibt es noch wesentlich mehr Bedürftige). Der Vorsitzende des Kreisexekutivkomitees kam gerade aus den Kolchosen zurück und berichtete, dass die Straße ins Kreiszentrum von Leichen gesäumt ist. Als ich ihn fragte, wie viele Leichen er ungefähr gesehen hatte, sagte er zwischen 60 und 70. […] Die Mitarbeiter des Kreises teilen mit, dass es nicht einen einzigen Kolchos gibt, in dem es keine Todesfälle und Auszehrung gibt. […] Die Bevollmächtigten, die zu den Kolchosen reiten, nehmen ihre Pferde nachts mit ins Haus und lassen sie tags bewachen, denn es hat Fälle gegeben, bei denen am helllichten Tage mit dem Messer auf den Hals oder den Körper eines Pferdes eingestochen wurde, in der Hoffnung, etwas vom Fleisch oder dem Blut abzubekommen […]«52

Je länger die Hungerkrise andauerte, desto stärker machten sich auch gesellschaftliche Erosionsprozesse bemerkbar. Hunger und soziale Destruktion bedingten und verstärkten einander; am offensichtlichsten wurde dies überall dort, wo hungernde Menschen zu Kannibalen wurden. Das Nachlassen sozialer Bindungen unter den Bedingungen der Krise machte die Kasachen in doppelter Hinsicht anfällig: Einerseits konnten sie sich nicht mehr darauf verlassen, dass sie auf die gleiche Art mit ihrer Umwelt interagieren konnten wie vor Beginn der Krise.53 Andererseits wurden die Menschen nun in einer Weise vom Staat der Bolschewiki abhängig, wie es ohne die Hungersnot kaum vorstellbar gewesen wäre.

Angesichts der katastrophalen demografischen und ökonomischen Verluste büßte die Sesshaftmachung der Nomaden an Bedeutung ein. Es könne, so schrieb der neu ernannte Erste Sekretär der kasachischen Parteiführung Levon Mirzojan54 im Sommer 1933 an Stalin, keine Rede mehr davon sein, dass noch Nomaden »im alten Sinne des Wortes« angesiedelt würden, denn »heute gibt es in Kasachstan keine nomadische oder halbnomadische Bevölkerung, die sich nicht auf der Flucht befinden würde. Faktisch ist die gesamte nomadische und halbnomadische Bevölkerung zu Flüchtlingen geworden.«55 Mittel, die für die Sesshaftmachung vorgesehen waren, müssten nun zur Unterbringung und Versorgung dieser sogenannten otkočevniki56 eingesetzt werden, denn diese Menschen »besitzen keinerlei Haushaltsgegenstände, kein Vieh und hängen faktisch am Hals des Staates. (Übrigens haben wir nach unseren Schätzungen im Juni 800 000 Menschen mit Getreide aus staatlichen Beständen ernährt.)«57

Mirzojan sollte Kasachstan vor dem völligen Zusammenbruch bewahren und – nicht zuletzt angesichts des zunehmenden Drucks benachbarter Sowjetrepubliken58 – für ein Ende der Massenflucht sorgen. Der Vorsitzende der »neuen Führung« in Alma-Ata tat, was von ihm erwartet wurde. Es kam ihm zugute, dass das Politbüro bereits im Herbst 1932 eine Reihe von Vergünstigungen und Unterstützungsmaßnahmen für die kasachische Landwirtschaft beschlossen hatte, von denen die Erlaubnis für Privatleute, in begrenztem Maße Vieh halten zu dürfen, die bedeutendste war. Zugleich gewährte die Moskauer Führung mehrere Tausend Tonnen Getreide als Lebensmittelhilfe für die Hungernden.59 Diese Schritte retteten unzähligen Menschen das Leben.60

Doch Mirzojan war kein mitfühlender Philanthrop,61 sondern ein kühl kalkulierender stalinistischer Funktionär. Deshalb war die Unterstützung der Mittellosen kein Akt bedingungsloser Solidarität. Die Kommunisten legten an alle Hilfsmaßnahmen ökonomische Kriterien an. Bei der Verteilung von Nahrungsmitteln und anderen Ressourcen war nicht die Bedürftigkeit, sondern die Arbeitsfähigkeit und -leistung des Einzelnen entscheidend.62 Wer nicht arbeitete, der sollte auch nicht essen. Abertausende entwurzelte Hungerflüchtlinge wurden zu Objekten kommunistischer Bevölkerungspolitik und innerhalb Kasachstans – vor allem in den Süden – umgesiedelt. Dabei ging es den Bolschewiki einerseits darum, das Flüchtlingsproblem zu lösen, andererseits aber konnten sie so den chronischen Arbeitskräftemangel in jenen Bereichen der Landwirtschaft beheben, in denen die schwierigsten Arbeitsbedingungen herrschten.63

Um diese Ziele zu erreichen, ließ die kasachische Parteiführung im Frühjahr 1933 die meisten der für die Hungernden an Bahnstationen und in den Städten eingerichteten Versorgungspunkte schließen.64 Mit dieser Maßnahme sollten die Hungerflüchtlinge aufs Land, in die Kolchosen und Sovchosen, und in Betriebe gezwungen werden. Nur dort, so sahen es die Beschlüsse der Parteiführung vor, sollten noch Lebensmittel verteilt werden; und zwar als Bezahlung für geleistete Arbeiten. Damit delegierten die Genossen die Verantwortung für das Überleben der Bedürftigen mit allen Konsequenzen »nach unten«.65 Sie überließen es Kolchosvorsitzenden und lokalen Funktionären, darüber zu entscheiden, wie viele Nahrungsmittel sie den oft entkräfteten und kranken Hungerflüchtlingen und ihren Familien zuteilen konnten und wollten.

In Kolchosen und Betrieben wurden die otkočevniki häufig als Konkurrenten empfunden. Viele Verantwortliche taten alles, um sich des bedrohlichen »Problems« zu entledigen. Sie wiesen den Neuankömmlingen die schwersten Arbeiten und die schlechtesten Unterkünfte zu, sie teilten ihnen, wenn überhaupt, nur magere Rationen zu, und in einigen besonders extremen Fällen deportierten sie die hilflosen Menschen ins Niemandsland der Steppe und überließen sie dort ihrem Schicksal. Funktionäre, die so handelten, taten dies aus unterschiedlichen Gründen. Sie alle standen unter dem permanenten Druck der Planerfüllung. Doch mit ausgehungerten und schwachen Menschen ließen sich keine Produktionserfolge feiern. Manche Europäer fanden angesichts des körperlichen und moralischen Zustands der Hungerflüchtlinge all ihre Vorurteile und Ressentiments gegenüber den Kasachen bestätigt: »Die Kasachen sind nicht in der Lage zu arbeiten.«66

In gewisser Weise hatten Mirzojan und seine Leute auch kaum eine andere Wahl, als die konkrete Entscheidungsgewalt über das Wohlergehen der otkočevniki an regionale und lokale Instanzen abzutreten und sich weitgehend darauf zu beschränken, das Fehlverhalten einzelner Funktionäre zu sanktionieren. Denn die kasachische Führung stand gleichfalls unter Druck: Aus den umliegenden Sowjetrepubliken kehrten immer mehr Flüchtlinge nach Kasachstan zurück, die den dortigen Behörden zunehmend zur Last fielen.67 Diese Menschen mussten untergebracht und versorgt werden. Überdies hatte Kasachstan trotz der Hungersnot strikte Lieferquoten für Fleisch und Getreide einzuhalten.

Bis in den Sommer 1934 hinein gelang es den Genossen in Alma-Ata kaum, die Situation substanziell zu entspannen. Mirzojan nutzte das Plenum des Zentralkomitees im Juni 1934, um die Mitglieder des Führungszirkels um Stalin zum wiederholten Male auf die prekäre Lage aufmerksam zu machen: »Im vergangenen Jahr haben unsere Viehzuchtsovchosen 680 000 pud68 Getreide an den Staat abgeführt. In diesem Jahr sollen diese Sovchosen 1,5 Millionen abgeben, obgleich sie in diesem Jahr nicht mehr gesät haben und die Sovchosen im letzten Jahr keine schlechte Ernte hatten. […] Wir haben beim Vieh nur 86 Prozent unserer Verpflichtungen erreicht. Die übrigen 14 Prozent zu verteilen, fällt uns sehr schwer. […] Um die Verpflichtungen vollständig zu erfüllen, muss man sie auf 552 000 Haushalte verteilen. In der gesamten Republik haben wir 560 000 Haushalte, aber auf Grundlage des Beschlusses des ZK müssen wir nomadische und halbnomadische Haushalte befreien. Das betrifft mindestens 150 000 Haushalte. Bleiben 400 000. Wir haben nicht genug Haushalte, um die Verpflichtungen zu verteilen. Wir haben gekürzt, Vergünstigungen zusammengequetscht, haben nicht mehr als 80 000 Haushalte befreit, dennoch haben wir nicht die gesamte Summe erreicht. […] Und jetzt kehren die otkočevniki zurück, die man ernähren und unterbringen muss, und wenn wir denen die Verpflichtung aufbürden, bekommen wir davon trotzdem kein Fleisch.«69

Mirzojans Klage über die zu hohe Abgabenlast Kasachstans interessierte niemanden. So etwas gehörte zum Standardrepertoire, wenn Funktionäre aus der Provinz in Moskau sprachen. Doch sein Hinweis auf die otkočevniki löste eine kleine Diskussion aus. Vorošilov entgegnete dem kasachischen Parteichef: »Dann nehmt doch weniger von ihnen auf.« Daraufhin Mirzojan: »Aber der Beschluss des Sovnarkom der RSFSR von irgendeiner Kommission des Rates für Arbeit und Verteidigung schreibt vor, dass wir von Kara-Kalpakien 7000 übernehmen sollen. Unsere Nachbarn haben damals mit Freude die Kasachen mit ihrem Vieh aufgenommen, aber nun schicken sie sie in großen Mengen zurück.« Jetzt warf Kalinin ein: »Aber es sind doch eure.« »Unsere, das ist richtig«, entgegnete Mirzojan, »aber wir können sie nicht alle auf einmal aufnehmen, vor allem, weil man uns dafür keine großen Summen gibt.«70

Damit hatte Mirzojan einen wunden Punkt berührt, der sowohl für die otkočevniki als auch für die Kommunisten in den Regionen von entscheidender Bedeutung war. Denn angesichts knapper Ressourcen war es so gut wie ausgeschlossen, sowohl die Lieferquoten zu erfüllen als auch die Hungrigen zu ernähren. Dieses Dilemma »lösten« Kommunisten auf allen administrativen Stufen in ähnlicher Weise: Sie delegierten das Problem nach unten.71 Für die Verantwortlichen vor Ort bedeutete dies, dass es für sie – wie so oft für subalterne Funktionäre im Stalinismus – keine »richtige« Entscheidung gab: Es wurden Genossen ihres Postens enthoben, aus der Partei ausgeschlossen und verurteilt, weil sie den otkočevniki Getreide vorenthielten. Aber es traf auch manche, die sie zu Lasten des Plans mit Lebensmitteln versehen hatten.72

Viele Funktionäre auf der lokalen Ebene sahen den einzigen Ausweg darin, weit verzweigte Korruptions- und Verteilungsnetzwerke aufzubauen und möglichst viele Genossen zu bestechen. So hofften sie, sich vor unliebsamen Nachforschungen zu schützen. Solche Netzwerke dienten auch als Distributionskanäle für »lebendes und totes Inventar« aller Art und weiteten sich oft über den unmittelbaren Kreis örtlicher Funktionäre hinaus auf Verwandte, Freunde, Klanangehörige und andere Bekannte aus.73 Für ihre Mitglieder stellten solche Netzwerke eine der wichtigsten Grundbedingungen des Überlebens dar.74 Doch nach außen schotteten sie sich ab. Je weniger Ressourcen zur Verfügung standen, desto geringere Chancen hatten Fremde und Neuankömmlinge, in derartige Verteilungsmechanismen inkorporiert zu werden.75 Weil die Inklusion einer Minderheit aber zwangsläufig immer auch den Ausschluss der Mehrheit bedeutete – und damit einem Todesurteil für die Betroffenen gleichkam –, schwebten die Verantwortlichen beständig in höchster Gefahr. Jederzeit konnten sie wegen der »Verschleuderung« von Lebensmitteln, der »konterrevolutionären Verschwörung« und anderer Vergehen angeklagt und verurteilt werden. Dennoch organisierten sich die Genossen in Netzwerken, die strukturell darauf angelegt waren, die Interessen des Staates zu unterlaufen. Doch auch wenn Funktionäre auf eigene Rechnung handelten, so rechtfertigten sie ihr Tun immer in der Rhetorik des Klassenkampfes und mit den Begriffen der aktuellen Parteilinie. Ihre persönlichen Feinde wurden zu »konterrevolutionären Elementen« und »Ausbeutern«, ihre Fehden bezeichneten sie als Kampf gegen »Banden« und »Erhebungen«. Genau umgekehrt verhielt es sich mit denjenigen, die ihren Netzwerken zugehörig waren. Ihren Freunden, Klangenossen und Verwandten sprachen sie den Status von »Kolchosbauern« zu, versorgten sie mit Ressourcen und schützten sie vor Repressionen. Bereits an diesen Beispielen wird ein Zusammenhang deutlich, der konstitutiv für sowjetische Herrschaft unter diesen Bedingungen war: Den Rhythmus der Eskalation gaben die Führer in Moskau und Alma-Ata vor. Doch Gewinner und Verlierer bestimmten die Funktionäre vor Ort häufig selbst.

Der Nutzen der Krise

Nach dem Ende der Hungersnot gab es abseits der Kolchosen keine legitimen Formen dauerhafter kollektiver Vergemeinschaftung mehr.76 In vielen von ihnen wirkten die »kriminellen« Zusammenschlüsse der Überlebensnetzwerke fort. Die Menschen teilten einerseits die Erfahrung, dass es trotz aller Risiken möglich und notwendig war, die Ansprüche des Regimes zu unterlaufen, um zu überleben. Andererseits aber hatten sie verstanden, dass sie vom Staat, der sie ins Elend gestürzt hatte, abhängig geworden waren.77 Denn wer sich ein- und unterordnete, der trug zur Affirmation bestehender Machtverhältnisse in den Kolchosen, Aulen und Dörfern – und damit letztendlich auch des sowjetischen Systems insgesamt – bei.

Es mag durchaus sein, dass die traumatischen Erfahrungen der frühen Dreißigerjahre zur Ausbildung einer spezifisch kasachischen »subalternen Identität« beitrugen, die sich durch einen besonders hohen Anpassungsgrad an das sowjetische System auszeichnete.78 Der »entsetzliche soziale Prozess«79 wirkte wie ein Katalysator. Die Sowjetisierung durch Hunger beförderte weder die Modernisierung von Lebenswelten, noch gebar sie »neue Menschen«. Sie erzeugte Subordination und Abhängigkeiten. Wer überlebt hatte, der neigte tendenziell zur Kooperation mit dem Regime. Den kommunistischen Machtanspruch stellte niemand mehr infrage und das Herrschaftsinstrument der Kriseneskalation hatte sich einmal mehr bewährt.80 Das war es, was die Bolschewiki trotz der verheerenden Verluste der Hungerjahre als Gewinn verbuchen konnten.

Das Problem der Sesshaftigkeit verlor an Relevanz. Zwar waren die meisten Kasachen zu einer mehr oder minder sesshaften Lebensweise gezwungen worden; nicht zuletzt deshalb, weil sich die Viehbestände nur äußerst langsam von den katastrophalen Verlusten während der Hungerjahre erholten. Und noch immer galt der Nomadismus als »rückständige« Kulturform, doch konnten sich die Bolschewiki nicht länger der Einsicht verschließen, dass sich Viehzucht unter den Bedingungen der Steppe nur dann in großem Maßstab verwirklichen ließ, wenn Herden und Hirten umherzogen .81 Dazu mochte auch die elementare Krisenerfahrung der Hungersnot beigetragen haben. Zwar löste sie keine radikale Neuorientierung der Landwirtschaftspolitik aus, aber sie blieb doch nicht ohne Auswirkungen.82

Im Januar 1935 versammelte die kasachische Führung die Parteisekretäre der nomadischen und halbnomadischen Gebiete der Republik in Alma-Ata. Als ein Genosse aus dem Kreis Žilokosinsk langatmig die Lebensumstände der Bevölkerung beschrieb, unterbrach ihn Mirzojan barsch und bedeutete ihm: »Erzähl uns nicht, wie die Leute nomadisieren, sondern wie die Situation mit dem Vieh ist.«83 Dies war nicht nur die gereizte Bemerkung eines viel beschäftigten Funktionärs, sondern vor allem ein Hinweis darauf, woran die führenden Bolschewiki in erster Linie interessiert waren: an der Vermehrung der Viehbestände.84 Wenn nomadische Tierhaltung zu diesem Zweck die effektivste und billigste Variante war, dann musste sie toleriert und innerhalb gewisser Grenzen auch aktiv unterstützt werden. Stalin selbst befürwortete diesen Kurs, indem er darauf hinwies, dass »Viehhirten-Nomaden in einzelnen Regionen [der Sowjetunion, R.K.] bis zum Anbruch des Sozialismus und des Kommunismus ihren nomadischen Lebensstil fortsetzen (werden).«85 Warum auch nicht? Die eigentlichen Ziele von Kollektivierungs- und Ansiedlungskampagne waren erreicht worden. Die Kasachen produzierten nun unter sowjetischer Kontrolle. Sesshaft mussten sie dazu nicht unbedingt werden.


1 In diesem Text wird aus Gründen der leichteren Lesbarkeit der Begriff Kasachstan verwendet. Gemeint 
ist damit die Kasachische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik und ab 1936 die Unionsrepublik Kasachstan.

2 Zur Bedeutung der Klans: Edward Schatz: Modern clan politics. The power of »blood« in Kazakhstan and beyond, Seattle 2004, S. 3–45.

3 Zusammenfassend: Niccolò Pianciola: Famine in the Steppe. The collectivization of agriculture and the Kazakh herdsmen, 1928–1934, in: Cahiers du Monde russe 45 (2004), H. 1/2, S. 137–192; Isabelle Ohayon: La sédentarisation des Kazakhs dans l’URRS de Staline. Collectivisation et changement social (1928–1945) [Die Sesshaftmachung der Kasachen in Stalins Sowjetunion. Kollektivierung und sozialer Wandel (1928–1945)], Paris 2006, S. 227–276.

4 Grundsätzlich zu Nomaden und Sesshaften: Anatolij Khazanov: Nomads and the Outside World, Madison 1994.

5 Dazu: Petr A. Stolypin/Aleksandr W. Kriwoschein: Die Kolonisation Sibiriens. Eine Denkschrift, Berlin 1912.

6 Siehe Moshe Gammer: Russia and Eurasian Steppe Nomads. An Overview, in: Reuven Amitai/Michael Biran (Hg.): Mongols, Turks, and Others, Leiden 2005, S. 483–502. Wortreich Klage über diese Zustände führt: V. G. Sokolovskij: Kazakskij aul. K voprosu o metodach ego izučenija gosudarstvennoj statistiki na osnove rešenij V-j Vsekazakskoj Partkonferencii i 2-go Plenuma Kazkrajkoma VKP(b) [Der kasachische Aul. Zur Frage der Methoden seiner Erforschung durch die staatliche Statistik auf Grundlage der Entscheidungen der V. Kasachischen Parteikonferenz und des 2. Plenums des Kazkrajkom der VKP(b)], Taškent 1926, S. 1–5.

7 A. N. Čelincev: Perspektiva razvitija sel’skogo chozjajstva Kazakstana [Die Perspektive für die Entwicklung der Landwirtschaft Kasachstans], in: Narodnoe chozjajstvo Kazachstana 3 (1928), H. 4/5, S. 1–39, hier S. 3–5.

8 Zit. nach: Š. Muchamedina: Ėkonomičeskaja politika sovetskoj vlasti kazachstanskom regione 1917–1926 [Die Wirtschaftspolitik der Sowjetmacht in der Region Kasachstan, 1917–1926], in: Voprosy Istorii (1997), H. 6, S. 125–132, hier S. 128.

9 Zit. nach: I. A. Zverjakov: Ot kočevanija k socializmu [Vom Nomadismus zum Sozialismus], Alma-Ata 1932, S. 53. Ein nomadischer Aul bestand aus mehreren Familien, die zusammen lebten, migrierten und wirtschafteten.

10 Siehe F. Slatuchin: Socialističeskaja perestrojka kočevogo kazachskogo aula [Der sozialistische Umbau des nomadischen kasachischen Aul], in: Sovetskaja Etnografija (1933), H. 1, S. 68–97, hier S. 75–77.

11 Eine Studie zum Bürgerkrieg in der Steppe ist ein Desiderat der Forschung. Die bislang beste Arbeit zur Revolution und den Anfängen des Bürgerkriegs: Marko Buttino: Revoljucia naoborot. Srednaja Azija meždu padeniem carskoj imperii i obrazovaniem SSSR [Die umgekehrte Revolution. Zentralasien zwischen dem Fall des zaristischen Imperiums und der Entstehung der UdSSR], Moskau 2007.

12 V. Rjabokon: K voprosu o sovetizacii aula [Zur Frage der Sowjetisierung des Auls], in: Krasnyj Kazakstan 1 (1926), H. 1, S. 35–62.

13 Zur Sozialstruktur der Kasachen: Nurbulat Masanov: Kočevaja Civilizacija Kazachov [Die nomadische Zivilisation der Kasachen], Almaty 1995.

14 Siehe Filipp Gološčekin: Ob aul’nom kommuniste – stat’ja v žurnale »Kzyl-Kazakstan« 1926g. [Über 
den Aul-Kommunisten – Ein Artikel in der Zeitschrift »Rotes Kasachstan« 1926], in: ders.: Partijnoe stroitel’stvo v Kazakstane. Sbornik rečej i statej (1925–1930gg.) [Parteiaufbau in Kasachstan. Gesammelte Reden und Aufsätze], Moskau 1930, S. 88–92, hier S. 88.

15 Bericht über den Zustand der Parteiorganisation in Džetysuj, 17. September 1926, in: Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-Političeskoj Istorii/Russisches Staatsarchiv für Sozial-Politische Geschichte (im Folgenden: RGASPI), f. 17, op. 85, d. 59, ll. 20-28.

16 In den sowjetischen Quellen bezeichnet dieser Begriff das kasachische Äquivalent zu den »Kulaken« unter den europäischen Bauern. Er steht für die soziale Kategorie der reichen »Ausbeuter«, die es aus der Perspektive der Bolschewiki zu bekämpfen galt, und er ist ähnlich unscharf wie der Begriff des Kulaken.

17 Bericht des Kasachischen Zentralen Exekutivkomitees über Abgaben der Bajhaushalte, Mai 1927, in: Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii/Staatliches Archiv der Russischen Föderation (im Folgenden: GARF), f. 393, op. 67, d. 449, ll. 5-8ob. Zur Kriminalisierung der Klans siehe Schatz: Modern clan politics (Anm. 2), S. 43–45.

18 Zur zaristischen Kolonisation: George J. Demko: The Russian Colonization of Kazakhstan 1896–1916, Bloomington 1969. Zur Sowjetzeit siehe Bericht über die Notwendigkeit der Beschränkung des Zuzugs nach Džetysuj, 1925, in: GARF, f. 1235, op. 120, d. 178, ll. 147-149.

19 Siehe Nurbulat Masanov/Ž. B. Abylchožin/I. V. Erofeeva: Istorija Kazachstana. Narody i kul’tury [Geschichte Kasachstans. Völker und Kulturen], Almaty 2001, S. 380.

20 Siehe Jörn Happel: Nomadische Lebenswelten und zarische Politik. Der Aufstand in Zentralasien 1916, Stuttgart 2010, S. 103–181.

21 Siehe V. G. Čebotareva: Problemy russkoj kolonizacii. Byla li Rossija »tjurmoj narodov«? [Probleme der russischen Kolonisation. War Russland ein »Völkergefängnis«?], in: Nikolaj Bugaj (Hg.): Rossija 
i Kazachstan. Problemy istorii [Russland und Kasachstan. Probleme der Geschichte], Moskau 2006, S. 83–132.

22 Siehe Pianciola: Famine in the Steppe (Anm. 3), S. 153.

23 Grundsätzlich zur bolschewistischen Nationalitätenpolitik und den, nicht nur in Kasachstan virulenten, Konflikten zwischen indigenen und europäischen Bolschewiki über die Zukunft der nationalen Repu-
bliken: Terry Martin: The Affirmative Action Empire. Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939, Ithaca 2001, S. 125–207.

24 Gabbas Togžanov: Buržuaznye i melkoburžuaznye »teorii« ob aule [Bürgerliche und kleinbürgerliche »Theorien« über den Aul], in: Narodnoe chozjajstvo Kazachstana 6 (1931), H. 5, S. 21–34, hier S. 24–26.

25 Thesen des Vortrags zur Entwicklung der Viehzucht in Kasachstan aus dem Protokoll Nr. 17 des Rates der Volkskommissare der RSFSR, 31. Januar 1927, in: GARF, f. 393, op. 67, d. 450, ll. 2-12.

26 Zusammenfassend: A. N. Donič: Problema »novogo kazakskogo aula« [Das Problem des »neuen kasachischen Auls«], in: Narodnoe chozjajstvo Kazachstana 4 (1928), H. 4/5, S. 141–168.

27 Sergej P. Švecov (Hg.): Kazakskoe chozjajstvo v ego estestvenno-istoričeskich i bytovych uslovijach. Materialy k vyrabotke norm zemel’nogo ustrojstva v Kazakskoj Avton. Sovetskoj Socialističeskoj 
Respublike [Die kasachische Wirtschaft in ihren natürlich-historischen und ihren Lebens-Bedingungen. Materialien zur Ausarbeitung einer Norm für die Landverteilung in der Kasachischen Autonomen Sowjetischen Sozialistischen Republik], Leningrad 1926, S. 105.

28 Nicolas Werth: Ein Staat gegen sein Volk. Das Schwarzbuch des Kommunismus. Sowjetunion, München 2002.

29 Filipp Gološčekin: Kazakstan na pod’eme [Kasachstan im Aufschwung], in: Narodnoe chozjajstvo 
Kazachstana 5 (1930), H. 5/6, S. 18–22, hier S. 19.

30 Siehe Ausschnitt aus den Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe des VCIK zur Untersuchung des sowjetischen Aufbaus in Kasachstan, 31. August 1930, in: GARF, f. 6985, op. 1, d. 5, ll. 20-20ob.

31 Siehe Matthew Payne: Seeing Like a Soviet State. Settlement of the Nomadic Kazakhs, 1928–1934, in: Golfo Alexopoulos/Julie Hessler/Kiril Tomoff (Hg.): Writing the Stalin Era. Sheila Fitzpatrick and 
Soviet Historiography, Basingstoke 2011, S. 66.

32 Siehe Valerij Michajlov: Chronika velikogo džuta. Dokumental’naja povest’ [Die Chronik des großen Džut. Dokumentarische Erzählung], Almaty 1996, S. 272. Kritik an der »Gigantomanie«: Bericht der Nationalitätenabteilung des VCIK über den Stand und die bevorstehenden Aufgaben bei der Ansiedlung der nomadischen und halbnomadischen Bevölkerung der RSFSR, o.D. 1933/34, in: GARF, f. 6985, 
op. 1, d. 7, l. 147 f.

33 Zit. nach Pianciola: Famine in the Steppe (Anm. 3), S. 164.

34 Siehe Zverjakov: Ot kočevanija (Anm. 9), S. 128.

35 Siehe Schreiben von Isaev an Molotov, vor dem 10. Februar 1932, in: GARF, f. 5446, op. 13a, d. 2451, 
ll. 32a-26.

36 Siehe Anlage zum Schreiben Isaevs an Molotov, in: ebd., l. 22.

37 Siehe Resolutionen und Protokoll der ersten Gebietsversammlung der mit der Ansiedlung befassten Funktionäre, 9./10. November 1930, in: Central’nyj Gosudarstvennyj Archiv Respubliki Kazachstan/Zentrales Staatsarchiv der Republik Kasachstan (im Folgenden: CGARK), f. 1179, op. 1, d. 3, l. 56.

38 Ein Beispiel: Bericht über die Arbeit der sowjetischen und Parteiorgane im Grenzgebiet, 9. April 1930, in: Archiv Prezidenta Respubliki Kazachstan/Archiv des Präsidenten der Republik Kasachstan (im Folgenden: APRK), f. 141, op. 17, d. 465, ll. 2 f.

39 Grundlegend zu diesem Zusammenhang: Ž. B. Abylchožin/M. K. Kozybaev/M. B. Tatimov: Kazachstanskaja tragedija [Kasachische Tragödie] in: Voprosy Istorii (1989), H. 7, S. 53–71. Siehe auch Mukhamet Shayakhmetov: The Silent Steppe. The Story of a Kazakh Nomad under Stalin, London 2006, S. 14.

40 Siehe Shirin Akiner: The formation of Kazakh identity. From tribe to nation state, London 1995, S. 12 f.

41 Zwischen 1930 und 1934 gingen die Viehbestände massiv zurück; bei einzelnen Arten um bis zu 
90 Prozent. Robert W. Davies/Stephen G. Wheatcroft: The Years of Hunger. Soviet Agriculture, 1931–1933, Houndmills 2004, S. 312 f.

42 Zur Massenflucht: Robert Kindler: Auf der Flucht – Die kasachischen Nomaden und die Hungersnot von 1930–1934, in: Matthias Middell/Felix Wemheuer (Hg.): Hunger, Ernährung und Rationierungssysteme unter dem Staatssozialismus (1917–2006), Frankfurt/M. 2011, S. 39–57.

43 Als Überblick: Turganbek Allanijazov/Amangel‘dy Taukenov: Poslednij rubež zaščitnikov nomadizma. Istorija vooružennych vystuplenij i povstančeskich dviženij v Kazachstane, 1929–1931gg. [Die letzte Linie der Verteidiger des Nomadentums. Geschichte der bewaffneten Erhebungen und Aufstandsbewegungen in Kasachstan, 1929–1931], Almaty 2009.

44 Siehe Stenogramm der Versammlung von Vertretern der nationalen Republiken und Gebiete beim CK VKP(b) zur Frage der Kollektivierung, 11. Februar 1930, in: RGASPI, f. 17, op. 165, d. 15, l. 18 f.

45 Siehe Josef W. Stalin: Zur Frage der Politik der Liquidierung des Kulakentums als Klasse, in: ders.: Werke, Bd. 12, April 1929–Juni 1930, Berlin 1954, S. 97.

46 Siehe Lynne Viola: Peasant Rebels under Stalin. Collectivization and the Culture of Peasant Resistance, New York 1996.

47 Deshalb irrt J. Arch Getty, der annimmt, die Bolschewiki hätten »Angst vor ihren Schatten« empfunden. J. Arch Getty: Afraid of their shadows. The Bolshevik Recourse to Terror, 1932–1938, in: Manfred Hildermeier (Hg.): Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg: Neue Wege der Forschung, München 1998, S. 169–191.

48 Zur Geschichte des Karlag: Wladislaw Hedeler/Meinhard Stark: Das Grab in der Steppe. Leben im Gulag. Die Geschichte eines sowjetischen »Besserungsarbeitslager« 1930–1959, Paderborn 2008, S. 31–53.

49 So sieht es Payne: Seeing (Anm. 31), S. 67.

50 Siehe Kamil Ikramov: Delo moego otca. Roman-chronika [Die Sache meines Vaters. Roman-Chronik], Moskau 1991, S. 97; Shayakhmetov: The Silent Steppe (Anm. 39), S. 162 f.

51 Zusammenfassend: Schreiben von Ryskulov an Stalin, Kaganovič, Molotov über die Lage in Kasachstan die kasachischen Flüchtlinge betreffend, 9. März 1933, in: GARF, f. 5446, op. 27, d. 23, ll. 245-253.

52 Brief von Kunaščaev an Isaev, 20. Februar 1933, in: CGARK, f. 1179, op. 5, d. 8, ll. 33-43.

53 Siehe Robert Kindler: Die Starken und die Schwachen. Zur Bedeutung physischer Gewalt während der Hungersnot in Kasachstan, 1930–1934, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 59 (2011), H. 1, S. 51–78.

54 Gološčekin wurde im Januar 1933 durch Mirzojan ersetzt: Protokoll Nr. 129 der Sitzung des Politbüros, 1. Februar 1933, in: RGASPI, f. 17, op. 3, d. 914, l. 9. Nun kam es für die Genossen darauf an, sich von der »alten Führung« abzusetzen. Dazu: Šestoj plenum Kazakskogo Kraevogo Komiteta VKP(b), 10.–16. ijulja 1933g. Stenografičeskij otčet [Sechstes Plenum des Kasachischen Gebietskomitees der VKP(b), 10.–16. Juli 1933, Stenografischer Bericht], Alma-Ata 1933.

55 L. D. Degitaeva (Hg.): Levon Mirzojan v Kazachstane. Sbornik dokumentov i materialov (1933–1936gg.) [Levon Mirzojan in Kasachstan. Sammlung von Dokumenten und Materialien (1933–1936)], Almaty 2001, S. 47.

56 Der Begriff setzt sich aus dem russischen Wort für Nomade »kočevnik« und dem Präfix »ot« zusammen und bezeichnet die kasachischen Flüchtlinge.

57 Degitaeva: Levon Mirzojan (Anm. 55), S. 47.

58 Siehe Stenogramm der Sitzung der Ryskulov-Kommission zur Frage der Versorgung der aus Kasachstan abgewanderten kasachischen Nomaden, 22. Februar 1933, in: CGARK, f. 30, op. 6, d. 207, ll. 1-20.

59 Siehe Viktor Danilov/Roberta T. Manning (Hg.): Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulačivanie. Dokumenty i materialy v 5 tomach, 1927–1939, t. 3, 1930–1933 [Die Tragödie des russischen Dorfes. Kollektivierung und Dekulakisierung. Dokumente und Materialien in fünf Bänden, 1927–1939, Bd. 3, 1930–1933], Moskva 2001, S. 483 f.

60 Siehe Shayakhmetov: The Silent Steppe (Anm. 39), S. 230–251.

61 Zum Zerrbild Mirzojans als »Retter« der Kasachen: Ž. B. Abylchožin: Inercija mifotvorčestva v osveščenii sovetskoj i postsovetskoj istorii Kazachstana [Die Trägheit der Mythenbildung bei der Beleuchtung der sowjetischen und postsowjetischen Geschichte Kasachstans], in: Nurbulat Masanov u. a. (Hg.): Naučnoe znanie i mifotvorčestvo v sovremennoj istoriografii Kazachstana [Akademisches Wissen und Mythen-
bildung in der gegenwärtigen Historiografie Kasachstans], Almaty 2007, S. 225–291, hier S. 251 f.

62 Siehe Bericht über die Ansiedlung der nomadischen Bevölkerung, o. D., Mitte 1937, in: CGARK, f. 74, op. 11, d. 264, l. 30.

63 Siehe Bericht über die Umsiedlung von Haushalten in die Zuckerrübengebiete Kasachstans, nach dem 
5. August 1934, in: APRK, f. 725, op. 1, d. 196, ll. 43 f.

64 Siehe Beschluss des Kazkrajkom, 26. März 1933, in: CGARK, f. 1179, op. 5, d. 3, l. 64.

65 Siehe O. V. Žandabekova (Hg.): Pod grifom sekretnosti. Otkočevki kazachov v Kitaj v period 
kollektivizacii, reemigracii, 1928–1957gg. Sbornik dokumentov [Unter dem Siegel der Geheimhaltung. Die Abwanderung der Kasachen nach China in der Zeit von Kollektivierung, Reemigration, 1928–1957. Quellenedition], Ust’-Kamenogorsk 1998, S. 67.

66 Ausführlich zu den hier genannten Praktiken und mit zahlreichen Beispielen: Kindler: Die Starken und die Schwachen (Anm. 53). Zitat: Bemerkungen zu einigen Verzerrungen, die in Karaganda auf dem Gebiet der Nationalitätenpolitik begangen wurden, November 1932, in: GARF, f. 1235, op. 141, 
d. 1565, l. 23.

67 Siehe M. P. Malyševa/V. S. Poznanskij: Kazachi – bežency ot goloda v zapadnoj Sibiri (1931–1934gg.) [Kasachen – Flüchtlinge vor dem Hunger in Westsibirien (1931-1934)], Almaty 1999.

68 Ein pud entsprach 16,38 Kilogramm. Bei der hier in Rede stehenden Menge handelte es sich also um etwas mehr als 11 000 Tonnen Getreide.

69 Danilov/Manning: Tragedija, Bd. 4 (Anm. 59), S. 163.

70 Ebd., S. 164.

71 Siehe Telegramm von Mirzojan und dem Bevollmächtigten der Kontrollkommission, Šarangovič, an alle Sekretäre der Oblastkomitees, o. D. [1934], in: APRK, f. 725, op. 1, d. 206, ll.10-11.

72 Siehe Gespräch zwischen Ospanov und Moldažanov, vom 12. Februar 1933, in: APRK f. 8, op. 1, d. 105, l. 15; Beschluss des Kazkrajkom vom 16. Februar 1933, in: CGARK, f. 1179, op. 5, d. 3, l. 37.

73 Siehe Spezialmitteilung zur Angelegenheit der Aufdeckung einer räuberischen Gruppe im Gebiet Suzak, 18. Oktober 1933, in: APRK, f. 719, op. 4, d. 675, ll. 94-96. Ein anderes Beispiel: Spezialbericht über die Untersuchung des Falles einer konterrevolutionären Schädlingsgruppierung im Kolchos »Erster Mai«, 
Aul Nr. 25, Kreis Akbulak, von Mironov, 9. März 1933, in: APRK, f. 141, op. 1, d. 5775, ll. 1-6.

74 Siehe Shayakhmetov: The Silent Steppe (Anm. 39), S. 183–188. Zur Korrelation von Gruppenzusammenhalt und Überlebenschancen: Cormac Ó Gráda: Famine. A short history, Princeton 2009, S. 45 f. 
u. 90 f.

75 Siehe Bericht von Uravov und Akžanov an Isaev, vom 2. Oktober 1934, in: CGARK f. 74, op. 11, d. 168, ll. 135 f.

76 Nach der Hungersnot verloren die Klans zunehmend an Bedeutung. Dazu: Ohayon: La sédentarisation (Anm. 3), S. 327–355. Zur Rolle von Klans in der sowjetischen und postsowjetischen Zeit knapp: Beate Eschment: Elitenrekrutierung in Kasachstan. Nationalität, Klan, Region, Generation, in: Osteuropa 57 (2007), H. 8/9, S. 175–194.

77 Ähnlich auch: Pianciola: Famine in the Steppe (Anm. 3), S. 191.

78 Bhavna Dave geht Hinweisen in diese Richtung nach. Bhavna Dave: Kazakhstan. Ethnicity, language and power, London 2007. Ein weiterer Aspekt dürfte dabei sicher auch der hohe Anteil von Europäern an der Bevölkerung Kasachstans sein. Spätestens seit 1939 stellten ethnische Kasachen nicht mehr die größte Bevölkerungsgruppe. Siehe auch Masanov/Abylchožin/Erofeeva: Istorija Kazachstana (Anm. 19), S. 588.

79 So der Titel des Sammelbandes von Lars Clausen (Hg.): Entsetzliche soziale Prozesse. Theorie und Empirie der Katastrophen, Münster 2003.

80 Damit ist nicht gesagt, dass die Bolschewiki die Hungersnot bewusst geplant hätten. Diese These, die insbesondere im Hinblick auf die Ukraine vielfach geäußert wird, lässt sich trotz aller Wiederholungen nicht belegen. Allerdings nahmen die Bolschewiki die Hungersnot als Konsequenz von Kollektivierung und Sesshaftmachung in Kauf und wussten ihre Folgen für sich zu nutzen. In Kasachstan gibt es keine vergleichbare Genozid-Debatte wie in der Ukraine. Zu den Gründen: Rudolf A. Mark: Die Hungersnot in Kasachstan. Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen, in: Osteuropa 57 ( 2007), H. 8/9, S. 571–588.

81 Siehe Robert Kindler: »Don’t tell us, how people nomadize.« Kazakhstan after the famine, 1934–1941, unver. Ms., Berlin 2008. Es gab jedoch auch Stimmen, die für eine Ausweitung der Sesshaftmachung warben: Stenogramm der Sitzung des Nationalitätensowjets des CIK SSSR zu Fragen der Landeinrichtung und Ansiedlung, 20. September 1935, in: GARF, f. 3316, op. 28, d. 802.

82 Zu den bekanntesten gehört sicherlich die Ausweitung privater Anbauflächen für Kolchosbauern und die Erlaubnis, in begrenztem Maße Produkte auf sogenannten Kolchosmärkten privat zu verkaufen. Zum Kolchossystem und seinen Veränderungen im Überblick: Davies/Wheatcroft: The Years of Hunger 
(Anm. 41), S. 348–399.

83 Stenogramm des Treffens der Sekretäre der nomadischen und halbnomadischen Gebiete, 10. Januar 1935, in: APRK, f.141, op. 1, d. 9572, l. 17.

84 Siehe Bericht von Bernštejn an Unšlicht, vor dem 29. April 1937, in: GARF, f. 8131, op. 14, d. 31, l. 6.

85 Zit. nach: Stenogramm (Anm. 81), l. 82.

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