JHK 2023

Inhaltsverzeichnis

JHK 2023

Stalins »Kulturattachés«

Oksana Nagornaia / Tatjana Raeva

Der Sieg im Zweiten Weltkrieg veränderte den außenpolitischen Status der Sowjetunion grundlegend. Von einem Ausgestoßenen im System der internationalen Beziehungen wurde das Land zu seiner Stütze. Sowjetische Ideologen versprachen sich vom neuen Image als Befreier der Welt vom Faschismus erhebliches Potenzial. Um dieses zu nutzen, sollte das Ziel fortan darin bestehen, den Kreis der ausländischen Öffentlichkeit, der dem sowjetischen Projekt loyal oder zumindest wohlwollend gegenüberstand, zu…

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Die Todesstrafe und die Transformation der kommunistischen Staatsgewalt nach Stalin

Pavel Kolář

I. Die Todesstrafe und die Legitimität moderner Herrschaft In der historischen Kommunismusforschung herrschte bisher wenig Interesse an der systematischen Untersuchung der Geschichte der Todesstrafe nach dem Ende des Stalinismus. Die Gründe für diese Forschungslücke liegen auf der Hand: Bis zur Phase der Entstalinisierung zwischen 1953 und 1956 wurde die Todesstrafe aus politischen Gründen maßlos eingesetzt, um sowohl tatsächliche als auch vermeintliche Gegner zu vernichten. In der…

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»Man muss die richtige Taktik anwenden.« Ermittlungsverfahren und Untersuchungshaft der DDR-Staatssicherheit in den 1950er- und 1970er-Jahren

Sebastian Stude

Anhand von zwei Fallbeispielen aus dem Bezirk Potsdam Mitte der 1950er-Jahre und Ende der 1970er-Jahre soll das Vorgehen der ostdeutschen Geheimpolizei bei strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und damit einhergehender Untersuchungshaft näher betrachtet werden. Dazu werden Inhaftierte und hauptamtliches Personal der Staatssicherheit, aber auch staatliche Institutionen, Regelungen und Verfahrensweisen beschrieben. Durch welche Handlungsweisen gerieten die inhaftierten Personen ins Visier der…

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Wahrheit und Lüge nach dem Terror

Anna Schor-Tschudnowskaja

Die Herrschaft Iosif Stalins war durch ein beispielloses Ausmaß an Staatsterror und politischer Unterdrückung gekennzeichnet. Mit seinem Tod 1953 endeten die politischen Repressionen in der UdSSR zwar nicht, aber ihr Umfang sank drastisch. Nach vorläufigen Schätzungen der russischen Menschenrechtsorganisation »Memorial« wurden unter Stalin etwa fünf Millionen Menschen allein aufgrund einzelner politischer Anschuldigungen verhaftet und mindestens eine Million von ihnen erschossen; viele weitere…

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Kontrollregime und Stabilitätserwartungen im Spätsozialismus

Jörg Baberowski / Robert Kindler

Kontrollen waren im »real existierenden Sozialismus« allgegenwärtig. Das korrekte Verhalten der »Volksmassen« wurde ebenso kontrolliert wie die Qualität von Konsumprodukten, Gleiches galt für die Umsetzung von Direktiven und Beschlüssen. Sogar die Kontrolleure selbst sahen sich zahllosen Formen der Überprüfung und Überwachung ausgesetzt. All dies verschlang erhebliche Ressourcen und machte den Unterhalt stetig wachsender Kontrollapparate erforderlich, die potenziell alle Bereiche der…

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Chruščëvs Wiederherstellung der Parteidiktatur

Jörg Ganzenmüller

Die Herrschaft Nikita Chruščëvs gilt als zutiefst widersprüchlich. Sie markiert den Übergang vom Stalinismus zur sowjetischen »Normalität« der 1960er- und 1970er-Jahre, wobei der Nachfolger Stalins nie vollständig mit der Gewalt gebrochen und Normalität nie ganz erreicht hat. Diese vermeintliche Widersprüchlichkeit hat das Verständnis der Entstalinisierung tief geprägt. Lange Zeit wurde die Entstalinisierung als ein politisches Projekt Chruščëvs verstanden und nach dessen Reichweite gefragt.…

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Schutz und Strenge

Jens Boysen

Die gemeinhin als weniger ideologisch-radikal und stärker pragmatisch oder sogar punktuell »liberal« beurteilte Phase des Spätsozialismus brachte im Falle Polens spezifische Entwicklungen mit sich, die zwar auf der Ereignisebene weiter gingen als in anderen Ländern, insbesondere mit Blick auf die Entstehung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność, aber weniger an den tatsächlichen Grundlagen des Staates änderten, als es den Anschein haben mochte. Denn zum einen war die maßgebliche Zäsur…

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Tschekismus im Sinkflug

Jens Gieseke

I. Diskurse über die Legitimität der Stasi In der Historiografie kommunistischer Geheimpolizeien spielt die Frage ihrer Selbstlegitimationen und die Wahrnehmung als Akteure durch die Bevölkerung nur eine untergeordnete Rolle. Meist beschränken sich Analysen des »Geistes« der Staatssicherheitsdienste auf den Hinweis, dass er sich aus der kommunistischen Ideologie speiste und mithin ein Kontinuum in der Geschichte der Sowjetunion und ihres Einflussbereiches darstellte. Umstritten ist höchstens,…

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Erinnerte Repressionserfahrungen in den letzten Jahren der DDR und deren Auswirkungen im Lebensverlauf

Hendrik Berth / Elmar Brähler / Peter Förster / Markus Zenger / Yve Stöbel-Richter

Im Jahr 2000 erhielt Eric R. Kandel den Nobelpreis für Medizin für seine Forschungen zum Gedächtnis. Durch seine Studien mit der Seeschnecke Aplysia wurde bekannt, auf welcher neurowissenschaftlichen Basis menschliche Erinnerungen entstehen.[1] Doch viele Gedächtnisprozesse gelten immer noch als wenig erforscht. Persönlich bedeutsame Erinnerungen (»Mein erster Kuss«) bleiben häufig lebenslang abrufbar. Und wer nur alt genug ist, wird sich noch recht detailliert erinnern können, was sie oder er…

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Die Gründergeneration der DDR

Andreas Petersen

In den Wochen und Monaten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrten deutsche Kommunisten aus der Sowjetunion in den von der Roten Armee besetzten Teil Deutschlands zurück. Die allermeisten waren Überlebende der stalinistischen Säuberungen. Nach Jahren der Verfolgung im Vaterland der Werktätigen stellten sie sich vorbehaltlos in den Dienst jener, die sie, ihre Familien und Parteigenossen soeben noch terrorisiert hatten. Sie wurden zu Instrumenten und Akteuren einer Politik, die sie oft gegen…

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Über die Trennung sprechen

Martin Wagner

»Niemand hat euch gezwungen, sich zu diesen Fragen zu äußern.«[1 Michail Suslov »Aber die Geschichte kann man nicht mit einigen leeren Phrasen falsifizieren.«[2] Deng Xiaoping Verehrung hatte sich in Verachtung verkehrt. Die Kommunistischen Parteien der Sowjetunion und Chinas, die einander nach dem Zweiten Weltkrieg endlich zugewandt begegnet waren, hatten sich entlang zahlreicher Interessengegensätze entzweit. Von ihrer Freundschaft, der sie im Jahr 1950 einen Bündnisvertrag gewidmet hatten,…

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Der Fall der Familie Ouřada

Muriel Blaive

Die Familie Ouřada emigrierte 1969 aus der Tschechoslowakei nach Australien. Zu ihr gehörten Vater, Mutter, ein Sohn, zwei Töchter und der Verlobte der ältesten Tochter – sechs von geschätzt 70 000 tschechoslowakischen Staatsbürgern, die nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts am 20. August 1968 aus dem Land flohen.[1] Ihr Fall führt zu einer umfangreichen Datensammlung in den Polizeiarchiven: 71 Seiten akribisch dokumentierter polizeilicher Ermittlungen, Befragungen und…

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Die Staatsanwaltschaft und die Steuerung der politischen Justiz in der DDR

Christian Booß

In den meisten Darstellungen von Repression und Kontrolle in der DDR nimmt das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) eine dominante Rolle ein. Doch diese »Stasifizierung« verengt und verzerrt den Blick auf Repressionspraktiken, bei denen andere Ermittlungsorgane ebenso von Bedeutung waren. Institutionen wie die Polizei oder, in den frühen Jahren der DDR, die wichtige Zentrale Kontrollkommission (ZKK), die mit Wirtschaftsverfahren oft Enteignungswellen einleitete, wurden in der Forschung bislang…

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Autorinnen und Autoren des Jahrbuches für Historische Kommunismusforschung 2023

Anhang

Jörg Baberowski Prof. Dr. phil., geb. 1961 in Radolfzell. 1982 bis 1988 Studium der Geschichte und Philosophie an der Universität Göttingen, 1989 bis 1994 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Osteuropäische Geschichte an der Universität Frankfurt a. M. 1994 Promotion an der Historischen Fakultät der Universität Frankfurt a. M.; September 2000 Habilitation an der Universität Tübingen; 2001/2002 Vertretung des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Universität Leipzig, seit…

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Die Sowjets im Ausland

Molly Pucci

[0] Als er 1954 aus dem Dienst entlassen wurde, arbeitete Nikolaj Kovalʼčuk seit über 20 Jahren für die sowjetische Geheimpolizei. Er hatte nicht nur im sowjetischen Russland und der Ukraine, sondern auch in den baltischen Staaten gedient, kurz nachdem diese an die Sowjetunion angegliedert worden waren. Außerdem hatte er zum NKWD-Beraterapparat in Polen und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gehört. Der 1902 in Kiew geborene Kovalʼčuk hatte nur zwei Jahre die Oberschule besucht, bevor er zur…

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Hegemonie und Eigeninteressen

Douglas Selvage

Agierten osteuropäische Geheimdienste im Globalen Süden als Stellvertreter des KGB oder verfolgten sie eine eigene Agenda? In den letzten Jahren erschienen mehrere Publikationen, die sich mit dieser Frage befassten und zeigen konnten, dass osteuropäische Geheimdienste keineswegs nur als verlängerter Arm des KGB oder Moskaus fungierten.[1] Vielmehr verfolgten sie eigene politische, wirtschaftliche oder gar ideologische Interessen. Das galt auch für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der…

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Zwischen »Parteilichkeit« und »Gesetzlichkeit«

Roger Engelmann / Daniela Münkel

Wie in anderen kommunistischen Staaten war die Staatssicherheit in der DDR das zentrale Instrument diktatorischer Herrschaft. Zur Ausschaltung politischer Gegner verfügte sie neben weitreichenden Möglichkeiten der Überwachung über die exekutiven Rechte einer strafrechtlichen Ermittlungsbehörde und über eigene Untersuchungshaftanstalten. Ihre Stellung im System der politischen Strafverfolgung war so stark, dass sie zu allen Zeiten die Rechtsprechung in »ihren« Strafverfahren präjudizieren konnte.…

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Kern und Peripherie. Zur Struktur politischer Tabus in der DDR

Udo Grashoff

Tabus sind universell. Diktaturen sollten jedoch gesondert betrachtet werden – allein schon deshalb, weil ideokratische Regime (wie das der DDR) besonders oft politische Tabus erzeugen und bewahren, um die dominante Doktrin zu etablieren und aufrechtzuerhalten.[1] Das Abstecken der Grenzen des Sagbaren und die Herausbildung einer Tabukommunikation kann als Teil der Normalisierung kommunistischer Parteiherrschaft angesehen werden. Durch Tabus werden stabile Bezugsgrößen geschaffen, wodurch…